Modellierung: eine Begriffsbestimmung

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Authorship
  1. 1. Stefan Heßbrüggen-Walter

    National Research Unversity Higher School of Economics

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Meine Präsentation ist der Frage gewidmet, inwiefern der Modellbegriff zur
umfassenden Charakterisierung von Forschungsleistungen innerhalb der digital humanities tauglich ist. Dabei gehe ich aus von der
sehr allgemeinen Definition William McCartys, der ein Modell als "von Natur aus
vereinfachte und deshalb fiktionale oder idealisierte Repräsentation" eines
gegebenen Gegenstandes oder Gegenstandsbereiches auffasst und daraus die Behauptung
ableitet, die digital humanities seien wesentlich mit der
heuristischen Exploration solcher digital erfassbarer Modelle von Texten oder
anderen Daten befasst (McCarty 2004: par. 3). Was als übergreifendes Erkenntnisziel
solcher heuristischer Bemühungen in Frage kommen soll, bleibt bei ihm jedoch im
Dunkeln. Zu finden ist lediglich die Bestimmung, dass digitale Modelle "für eine
bestimmte Zeit andauernde Zustände in einem Prozess, in dem man zu Wissen gelangt,
anstatt fixe Strukturen von Wissen" (McCarty 2004: par. 9). Ich halte diese These
für falsch, jedenfalls was den fest etablierten Gebrauch des Modellbegriffs
innerhalb der Naturwissenschaften betrifft.
Geisteswissenschaftlerinnen steht es frei, den Begriff des Modells nach eigenem Ermessen unter Berücksichtigung ihrer eigenen methodischen Vorfestlegungen neu zu definieren. Deswegen ist kurz ein zweites, möglicherweise eher einschlägiges Verständnis des 'Modells' in den Geisteswissenschaften zu diskutieren, das in Diskursen des
software engineering entstanden sein dürfte. In jenen Bereichen, in denen die Methodologie der
digital humanities sich mit der Generierung von Computercode überschneidet, kann der Modellbegriff legitim gebraucht werden. Jedoch ist Modellierung in diesem Verständnis ein Werkzeug der digitalen Geisteswissenschaften und darf nicht als Selbstzweck missverstanden werden. Insofern ist Modellierung für die
digital humanities zwar von Interesse, aber kein Begriff, der unsere Praxis insgesamt erfassen kann.

Modell und Naturwissenschaft
Um die Diskussion übersichtlicher zu gestalten, werde ich mich nicht mit
ikonischen Modellen, also etwa dem Billardballmodell von Gasen oder der
virtuellen Rekonstruktion einer Predigt von John Donne auseinandersetzen, da
hier spezifische Probleme jenseits des allgemein etablierten Modellbegriffs zu
erörtern wären (Virtual Paul‘s Cross s. a.). Vielmehr bin ich an dem
interessiert, was McCarty als 'komputationale Nachverfolgbarkeit' (computational tractability) bezeichnet, da hier
vielleicht ein gemeinsames Charakteristikum von Modellen in den digitalen
Geisteswissenschaften und mathematischen Modellen in den Naturwissenschaften
festzustellen wäre. Hier ist die wesentliche Bezogenheit mathematischer Modelle
auf Theorien von besonderem Belang (Portides 2008: 386-387). Mathematische
Modelle können in theoriegetriebene Modelle und phänomenologische Modelle
unterschieden werden. Theoriegetriebene Modelle werden aus einer bereits
etablierten Theorie unter Benutzung von lokalen Hypothesen und entsprechender
Randbedigungen abgeleitet. Phänomenologische Modelle umfassen lediglich
empirische Daten und ad-hoc-Hypothesen, wenn eine Theorie des
Gegenstandsbereiches noch nicht zur Verfügung steht. Theoriegetriebene Modelle
machen implizite Folgerungen aus bereits existierenden Theorien explizit.
Phänomenologische Modelle sollen uns dabei helfen, überhaupt erst einmal eine
Theorie zu formulieren.
Aber beide Arten von Modellen dienen dazu, Vorhersagen über das erwartbare
Verhalten des jeweils untersuchten Systems zu ermöglichen (Forster 2008:
passim). Solche Vorhersagen sind deswegen möglich, weil Theorien über die Natur
Erklärungen von Naturereignissen oder -phänomenen enthalten und damit Wissen
über allgemeine kausale Relationen zwischen allgemeinen Klassen von Ereignissen:
"Kein Modell steht sozusagen für sich selbst; es greift zurück auf riesige
Mengen theoretischen und empirischen Wissens, […] Hintergrundtheorien und
empirische Daten verleihen den verschiedenen in einem Modell verwendeten
Symbolen Bedeutung." (Barberousse / Ludwig 2009: 61).
Geisteswissenschaftler sind nur selten an Naturgesetzen oder ähnlichen Verallgemeinerungen interessiert. Im Mittelpunkt unseres Interesses steht das einzelne Objekt, selbst wenn es sich etwa um den europäischen Roman zwischen 1800 und 1900 handelt (Moretti 1998).
Dieser Gegenstand ist abstrakt, kann nur durch die Analyse komplexer Daten erforscht werden kann, aber er ist doch ein partikularer Gegenstand. Zwar sind auch Geisteswissenschaftlerinnen an Kausalaussagen interessiert, aber für Historiker sind eher einzelne Kausalaussagen als eventuelle 'Gesetze der Geschichte' von Belang: wichtig ist, warum Caesar den Rubikon überquerte, nicht welche allgemeinen Gesetze für die Überquerung eines Flusses durch Diktatoren gelten.
Fragen, die innerhalb der Wissenschaftstheorie in Bezug auf Modelle erörtert werden, können innerhalb der digitalen Geisteswissenschaften nicht sinnvoll gestellt werden. Ob Modelle als nützliche Fiktionen gelten oder uns zu Wahrheiten über die Welt führen können, ist innerhalb der digitalen Geisteswissenschaften von nachrangiger Bedeutung: unsere Ansprüche auf Wahrheit sind bestenfalls prekär und provisorisch. Ob Modelle Voraussagen über das Verhalten von Systemen ermöglichen ist nicht von Belang, denn wir sind nicht an der Vorhersage der Zukunft interessiert. Wenn Modelle in den Naturwissenschaften immer in Bezug zu einer bereits existierenden oder zukünftigen Theorie des jeweiligen Gegenstandsbereichs stehen, fehlt dieser Bezug, weil die digitalen Geisteswissenschaften keine Theorie in diesem Sinne entwickeln.
Denkbar wäre jedoch, dass der Gebrauch des Modellbegriffs innerhalb der Statistik
als Brücke zwischen naturwissenschaftlichen und geisteswissenschaftlichen
Verwendungen dienen könnte. Jedoch sind Modelle auch innerhalb der Statistik eng
verschränkt mit dem Begriff der Vorhersage. Hier geht es darum, begründen zu
können, ob Daten die Behauptung der Wahrheit einer Hypothese rechtfertigen
können oder nicht: "[…] alle statistischen Verfahren beruhen auf der Annahme
eines statistischen Modells, hier verstanden als jegliche beschränkte Menge
statistischer Hypothesen. Außerdem zielen beide [sc. statistische Verfahren und
Modelle] auf die Beurteilung dieser Hypothesen." (Romeijn 2014) Wenn eine
statistische Hypothese durch ein Modell und ein entsprechendes Verfahren als
wahr erwiesen wird, wird sie dann Teil einer wissenschaftlichen Theorie.
Diese 'kanonisierte' Anwendung statistischer Verfahren ist von ihrem Einsatz in den digitalen Geisteswissenschaften deutlich unterschieden. Hier werden statistische Werkzeuge zur Erkennung von Mustern eingesetzt, ohne dass dem eine zuvor definierte Hypothese zugrundeliegen muss, also ohne ein statistisches Modell zur Anwendung zu bringen. Wir suchen gerade Muster, die wir nicht kennen. Und diese Muster sind wieder einzelne (abstrakte) Gegenstände in diesem Text, in diesem Corpus und nicht Allgemeinbegriffe, die sich auf natürliche Arten beziehen, wie sie in den Naturwissenschaften vorausgesetzt werden.
Außerdem sind nicht alle Muster gleich oder gleich wichtig. Ob ein Muster von Interesse ist, hängt nicht von vorhergehenden Hypothesen über den jeweiligen Gegenstandsbereich ab, sondern vielmehr von unserer Kenntnis anderer Einzelgegenstände, ihren Korrelationen, ihrer historischen Entwicklung und der Erfahrung und Urteilskraft des Forschenden, der sich mit diesem Gegenstandsbereich häufig über lange Zeit vertraut gemacht hat.

Modell und Software
Es existieren also tiefgreifende Unterschiede zwischen dem etablierten
Gebrauch des Modellbegriffs in Naturwissenschaften und Statistik und einem
denkbaren Gebrauch in den Geisteswissenschaften. Allerdings ist zu beachten,
dass der Gebrauch des Ausdrucks "Modell" auch in der Informationstechnologie
üblich ist. Vielleicht also leitet sich der Gebrauch des Modellbegriffs in
den digitalen Geisteswissenschaften gar nicht aus den Naturwissenschaften
ab, sondern aus Theorie und Praxis des Software Engineering. Leider ist der
Modellbegriff in diesen Kontexten ähnlich uneindeutig wie in der
naturwissenschaftlichen Praxis (Ludewig 2003: 9). Ihm scheint indes die
basale Intuition zugrundezuliegen, dass Software als "Modell der Welt"
aufzufassen ist (Ludewig 2003: 9-10). In diesem Zusammenhang ist auf
zweierlei hinzuweisen: Software mag als Modell der Welt fungieren, dies ist
aber nicht ihre einzige Funktion. Software interagiert auch mit der Welt.
Damit unterliegt der Erfolg eines Softwareprodukts Einschränkungen, die
außerhalb seiner selbst liegen. Wenn in einer Maschine aufgrund eines
Denkfehlers im der Steuersoftware zugrundeliegenden Modell eine Fehlfunktion
auftritt, kann sich der Entwickler nicht darauf berufen, dass das der
Software zugrundeliegende Modell nur als arbiträre Konstruktion eines
bestimmten Wirklichkeitsausschnitts gedacht war. Dies gilt auch für
Software, die jenen Ausschnitt der Welt repräsentiert, der aus menschlichen
Artefakten besteht und von Geisteswissenschaftlerinnen untersucht wird.
Führt ein Bug in einem Tokenizer zu falschen Wortzahlen, würden wir die
Dinge nicht so lassen, wie sie sind, weil Modelle sowieso nur
Approximationen an die Wirklichkeit darstellen.
Wichtiger noch erscheint der Hinweis, dass Repräsentationen der menschlichen Kultur in Softwarewerkzeugen, die in den digitalen Geisteswissenschaften zum Einsatz kommen, nie ein Selbstzweck sind. Selbst wenn man zugesteht, dass Software diese repräsentationale Funktion hat, so soll sie am Ende doch als Werkzeug geisteswissenschaftlicher Forschung funktionieren. Lesen, Denken und Schreiben sind essentielle Bestandteile des analogen geisteswissenschaftlichen Arbeitsprozesses. Aber niemand nähme an, dass diese Aktivitäten intrinsischen Wert haben, wenn sie nicht zum Fortschritt der jeweiligen Disziplin beitragen würden. Auf gleiche Weise sind auch Software und ihre Modelle Teil unseres digitalen Arbeitsprozesses. Solche Repräsentationen haben aber primär instrumentellen Wert und sollten nicht als Selbstzweck missverstanden werden.

Bibliographie

Barberousse, Anouk / Ludwig, Pascal (2009): "Models as
Fictions" in: Suárez, Mauricio (ed.): Fictions in
Science. Philosophical Essays in Modeling and Idealizations. London
/ New York: Routledge 56-73.

Forster, Malcolm (2008): "Prediction" in: Psillos,
Statis / Curd, Marin (eds.): The Routledge Companion to
Philosophy of Science. London / New York: Routledge 405-413.

Ludewig, Jochen (2003): "Models in software engineering
– an introduction" in: Software and Systems Modeling
2: 5-14.

McCarty, Willard (2004): "Modeling: A Study in Words
and Meanings", in: Schreibman, Susan / Siemens, Ray / Unsworth, John (eds.):
A Companion to Digital Humanities. Oxford:
Blackwell http://www.digitalhumanities.org/companion/ [letzter Zugriff 14.
Oktober 2015].

Moretti, Franco (1998): Atlas of the
European Novel, 1800-1900. London: Verso.

Portides, Demetris (2008): "Models", in: Psillos,
Statis / Curd, Marin (eds.): The Routledge Companion to
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Romeijn, Jan Willem (2014): "Philosophy of Statistics",
in: Zalta, Edward (ed.): The Stanford Encyclopedia of
Philosophy (Winter 2014 Edition)
http://plato.stanford.edu/archives/win2014/entries/statistics/
[letzter Zugriff 14. Oktober 2015].

Virtual Paul’s Cross Project: Virtual Paul's Cross. A Digital Recreation of John Donne's
Gunpowder Sermon. Teaching and Visualization Lab, NC State’s James B. Hunt
Library http://vpcp.chass.ncsu.edu/ [letzter Zugriff: 14. Oktober 2015].

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In review

DHd - 2016
"Modellierung - Vernetzung – Visualisierung: Die Digital Humanities als fächerübergreifendes Forschungsparadigma"

Hosted at Universität Leipzig (Leipzig University)

Leipzig, Germany

March 7, 2016 - March 11, 2016

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Conference website: http://dhd2016.de/

Contributors: Patrick Helling, Harald Lordick, R. Borges, & Scott Weingart.

Series: DHd (3)

Organizers: DHd