LERA - Explorative Analyse komplexer Textvarianten in Editionsphilologie und Diskursanalyse

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Authorship
  1. 1. Susanne Schütz

    Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

  2. 2. Marcus Pöckelmann

    Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

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Ausgangssituation und Projektrahmen
Der Vergleich von Textfassungen ist eine zentrale Aufgabe der Editionsphilologie
und Grundlage für die Erstellung von Variantenapparaten in kritischen Editionen.
Zudem lässt sich über den Textvergleich die inhaltliche Evolution von Texten
nachvollziehen. Je umfänglicher oder komplexer die zu edierenden Werke sind,
desto schwieriger ist es für die Editoren und die Nutzer von Editionen den
Überblick über die Textfassungen zu behalten. Mit dem hier vorgestellten, in die
Arbeitsumgebung LERA (Bremer et al. 2015) integrierten Ansatz, wird diesem
Problem mit einer Kombination von graphischen Werkzeugen begegnet, deren
Zusammenwirken den Überblick über große Textmengen und ihre inhaltliche
Auswertung erleichtert und zudem die Möglichkeit zum ergbnisoffenen Erkunden der
Textvarianten bietet.
LERA ist eine interaktive, webbasierte Arbeitsumgebung zur Untersuchung mehrerer
Fassungen eines Textes. Sie wurde im Rahmen des vom Bundesministeriums für
Bildung und Forschung geförderten Projekts: Semiautomatische
Differenzanalyse von komplexen Textvarianten (SaDA) entwickelt (Medek
et al. 2015). Als Fallbeispiel für die Entwicklung von LERA wurde ein Buch aus
der 'Histoire philosophique et politique des établissements et du commerce des
Européens dans les deux Indes' von Thomas-Guillaume Raynal, einem der
gesamteuropäisch einflussreichsten Erfolgs- und Skandalbücher des 18.
Jahrhunderts, gewählt. Das Werk ist eine kritische Auseinandersetzung mit der
europäischen Kolonialexpansion in den ,beiden‘ Indien und liegt in vier stark
überarbeiteten Fassungen aus den Jahren 1770, 1774, 1780 und 1820 vor (Schütz /
Pöckelmann 2014).
Für die Kollationierung verschiedener Textfassung gibt es bereits eine Reihe
digitaler Werkzeuge. Drei der bekanntesten, CollateX, Juxta und
TUSTEP, liefern für
viele Fragestellungen gute Ergebnisse, unterscheiden sich in ihren
Anwendungsszenarien aber erkennbar von LERA. Während LERA einen zweistufigen
Ansatz verfolgt, bei dem vor dem detaillierten Textvergleich zunächst eine
Alignierung größerer Textpassagen berechnet wird, was denEinsatz komplexer
Signaturwerte 1 für den Vergleich
notwendig macht, liegt der Fokus von CollateX auf der Alignierung
(normalisierter) Token, für den auf einfache Zeichenketten als Signaturwerte
zurückgegriffen wird. Juxta zeigt mit seinen hilfreichen Visualisierungen die
Unterschiede zu einer ausgewählten Leithandschrift auf, während LERA für den
direkten Vergleich mehrerer Textfassungen konzipiert wurde und stets die
Textänderungen zwischen allen Fassungen darstellt. Der wohl vielseitigste
digitale Werkzeugkasten aus dem Bereich der Geisteswissenschaften, TUSTEP,
bietet ebenfalls Möglichkeiten zum Vergleich verschiedener Textfassungen.
Allerdings erfordert der Umgang mit dem textbasierten Interface eine längere
Einarbeitungszeit, die sich zumindest für einige Anwender durch die neu
entwickelte XML-basierte Variante TXSTEP verringert. LERA wurde hingegen von Beginn
an durch interaktive graphische Elemente als intuitiv bedienbare Arbeitsumgebung
entwickelt. Veränderte Vergleichsparameter sollen dabei durch schnelle
Neuberechnung eine direkte Präsentation des Ergebnisses ermöglichen und so zum
Experimentieren einladen.

Explorative Analyse mit LERA
Die Arbeitsumgebung erzeugt eine synoptische Gegenüberstellung von größeren Textsegmenten, welche die Grundlage für den Textvergleich bilden. Für die „Histoire des deux Indes“, die in vielen Drucken mit variierendem Zeilenfall vorliegt, wurden Absätze als Vergleichsebene gewählt. Unterschiede zwischen den Textfassungen werden durch Farbmarkierungen in der Synopse und in einem gemeinsamen Variantenapparat dargestellt. Das Vergleichsergebnis kann durch Filtereinstellungen beeinflusst und so an verschiedene Fragestellungen angepasst werden. Beispielweise lassen sich orthographische Varianten ausblenden, so dass dem Nutzer hauptsächlich die inhaltlichen Unterschiede präsentiert werden.
Aufbauend auf dieser Grundfunktionalität wurden die drei im Folgenden beschriebenen Komponenten in LERA integriert, die das Überblicken und Auswerten der Textunterschiede erleichtern sollen.

Integrierte Suche
Als erster wichtiger Baustein wurde eine Suchfunktion eingebunden, die das schnelle Auffinden einzelner Schlagwörter ermöglicht. Das Suchfenster zeigt an, wie häufig der – intern normalisierte – Begriff in der gesamten Synopse vorkommt. Die Treffer der Suche sind dabei in den Texten farbig unterlegt und können über Navigationspfeile angesteuert werden.

Abb. 1: Suchfunktion in LERA: Die gelb hervorgehobenen
Suchtreffer können durch die Schaltflächen der Suchmaske (oben rechts)
angesteuert werden.

CATview: Strukturelle Übersicht
Der oben beschriebene Textvergleich bildet die Datenbasis der integrierten interaktiven Übersichts- und Navigationsleiste CATview
(Pöckelmann et al. 2015). Die Synopse wird schematisch in CATview dargestellt, indem jedes Segment der Vergleichstexte als Rechteck abgebildet und entsprechend seiner Position in der Synopse angeordnet wird. Die Farbe der Rechtecke zeigt die Intensität der Überarbeitung an. Je stärker dabei ist die Veränderung des Textsegments ausfällt, desto dunkler wird das Farbfeld dargestellt. So verschafft CATview einen Überblick über die Struktur der Texte und die Verteilung der Unterschiede. Zudem erleichtern weitere Funktionen wie die Verlinkung der Rechtecke mit den entsprechenden Textsegmenten die Navigation in der Synopse.

Abb. 2: Die in LERA integrierte CATview stellt Struktur
und Unterschiede zwischen den Textfassungen schematisch dar und erleichtert
die Navigation durch Verlinkungen und einen Bildlauf-Indikator (orange).

Wortwolken: Thematische Übersicht
Zusätzlich zum synoptischen Textvergleich und dessen Visualisierung in CATview kann die Arbeitsumgebung LERA für jede Textfassung eine interaktive Wortwolke generieren, die einen Vergleich des Auftretens und der Häufigkeit von Schlagwörtern ermöglicht und so einen Überblick über die Inhalte der jeweiligen Textfassung gibt. Welche Wörter dabei angezeigt werden, hängt von den Nutzervorgaben ab. So kann beispielsweise die Auswahl der Wörter auf einzelne Wortarten beschränkt
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oder eine Mindestlänge festgelegt werden. Zudem sind das Bewertungskriterium (Häufigkeit, Tf-idf-Maß) und verschiedene Darstellungsformen wählbar. Durch die Gegenüberstellung der Wortwolken aller Textfassungen wird das Erkennen einer veränderte Wortwahl und Themensetzung zwischen den Textfassungen erleichtert.

Abb. 3: Von LERA generierte Wortwolken für vier
Textfassungen: Entsprechend der Nutzereinstellungen wurden als eine der
wählbaren Darstellungsformen dreidimensionale Kugeln mit den jeweils 20
häufigsten Wörtern generiert und die Wortgröße über alle Fassungen hinweg
ermittelt. So wird beispielsweise die veränderte Häufigkeit des Begriffs
„espagnol“ kenntlich (67, 77, 63 und 81).

Das Zusammenspiel der Werkzeuge
Die innovative Kombination der beschriebenen Ansätze zur Analyse und Darstellung von Varianten ermöglicht das effiziente Erkunden umfangreicher Texte und die wirkungsvolle Visualisierung von Suchergebnissen. Die Arbeitsumgebung bietet so verschiedene Zugänge zur explorativen Analyse an, von denen im Folgenden drei Kombinationsmöglichkeiten erläutert werden.

Kombination von CATview und Suchfunktion
Die Übersichtsleiste CATview zeigt die Überarbeitung der Textfassungen an und vereinfacht die Navigation in umfangreichen Synopsen. Kombiniert man dieses Werkzeug mit der Suchfunktion, werden die Treffer der Suche nicht nur farbig im Text unterlegt, sondern ebenfalls in den Rechtecken der Übersichtsleiste angezeigt. So kann die Verteilung eines Themas über den gesamten Text auf einen Blick erfasst werden. Mit dieser Funktion lassen sich zudem korrespondierende Textstellen, die nicht direkt aligniert sind, leichter auffinden.

Kombination von Suche und Wortwolken
Die Ergebnisse der Suche werden in den interaktiven Wortwolken ebenfalls farbig hervorgehoben, was das Auffinden der Schlagworte und damit den Vergleich der Relevanz bzw. Häufigkeit in den verglichenen Textfassungen erleichtert. Neben dieser intendierten Suche kann die Kombination der beiden Komponenten den Nutzern Anregungen für die weitere Textexploration geben. In den Wortwolken sind Begriffe enthalten, die auf Grund ihrer Häufigkeit eine Relevanz für den Textinhalt vermuten lassen, ein Klick auf die angezeigten Begriffe in den Wortwolken löst die Suche aus.

CATview in Kombination mit Wortwolken und Suchfunktion
CATview bietet ein Auswahlwerkzeug an, mit dem der Textbereich für die Analyse eingeschränkt werden kann. Dieses Vorgehen bietet sich an, wenn eine Passage des Textes wegen ihrer Überarbeitung oder der Verteilung von Suchbegriffen besonders interessant erscheint. Durch die Beschränkung der Textauswahl verändert sich sofort die Zusammensetzung der Wortwolken, da auch ihre Datengrundlage eingeschränkt wird, indem nur noch die Begriffe aus der Auswahl betrachtet werden. Die Wortwolken werden für jede neue Auswahl umgehend aktualisiert. Die Auswahlbox kann durch drag-and-drop in der Übersichtsleiste bewegt werden. Durch diese Bewegung verändern sich folglich auch die Wortwolken, sodass stets die Themen der aktuell gewählten Textpassage angezeigt werden. Dadurch erzeugt die Bewegung eine Art interaktive Animation an Hand derer die inhaltliche Entwicklung der Texte veranschaulicht wird. Dieses Vorgehen kann zu neuen interessanten Fragestellungen führen.

Abb. 4: Beispiel für das Zusammenspiel von
Suche, CATview und den Wortwolken: Mit Hilfe des Auswahlwerkzeugs von
CATview wurden die Absätze 143 und 144 markiert, was sogleich die Wortwolken
aktualisiert und so eine grobe inhaltliche Übersicht dieser aus H80
entfernten Textpassage erzeugt. Mit einem Klick auf den Begriff „horreur“ in
den Wolken wird eine Suche gestartet, die wiederum in CATview durch die
Markierung der Suchtreffer einen Hinweis dafür liefert, dass Teile der
Passage bei der Überarbeitung in den Absatz 137 eingeflossen sind.

Zusammenfassung
Neben der Grundfunktionalität zum Vergleich mehrerer Fassungen eines Textes entsprechend getroffener Nutzereinstellungen wurden in die Arbeitsumgebung LERA mit der Suchfunktion, der Übersichts- und Navigationsleiste CATview sowie den interaktiven Wortwolken drei Komponenten zum Analysieren der gefundenen Unterschiede integriert, deren Kombination das traditionelle Vorgehen der systematischen Textauswertung um die ergebnisoffene Exploration erweitert. So führt das willkürliches Experimentieren mit diesen Komponenten gegebenenfalls zu unerwarteten Erkenntnissen und neuen Hypothesen. Das ist insbesondere für Nutzer von digitalen Editionen interessant, die oft andere Fragestellungen verfolgen als die ursprünglichen Editoren. So werden das Nachvollziehen von Argumentationsketten und die historische Veränderung von Diskursen im Zuge der Überarbeitung von Texten effektiv unterstützt.

Anmerkungen
Diese Arbeit wurde durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) [Projektkürzel: 01UG1247 / human-325-010 / SaDA] im Rahmen des Projekts „Semi-automatische Differenzanalyse von komplexen Textvarianten“ unter Leitung von Prof. Dr. Thomas Bremer, Prof. Dr. Paul Molitor, Dr. Jörg Ritter und Prof. Dr. Hans-Joachim Solms gefördert.
Weitere Informationen samt Demonstratoren zu LERA finden Sie auf der Projektseite von SaDA:
http://sada.uzi.uni-halle.de

Für einen Absatz fließen beispielsweise dessen Position und enthaltene signifikante Wörter in die Bestimmung des Signaturwerts ein. Ein Wort gilt dabei als signifikant, wenn es in mindestens zwei der zu vergleichenden Texte vorkommt und in der allgemeinen Sprachverwendung relativ selten ist.
Die Bestimmung der Wortarten für die Wortwolken erfolgt automatisch mit Hilfe des TreeTaggers. Siehe „TreeTagger - a language independent part-of-speech tagger“.

Bibliographie

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Collate - Discover. http://www.juxtasoftware.org/ [letzter Zugriff 15. Oktober
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Methoden bei der Erstellung und Nutzung genetischer Editionen gedruckter
Texte mit verschiedenen Fassungen - Das Fallbeispiel der Histoire
philosphique des deux Indes von Guillaume Thomas Raynal" in: Nutt-Kofoth,
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Stuttgart (2010-): TXSTEP. Die XML-Version
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[letzter Zugriff 15. Oktober 2015].

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