Neue Wahlverwandtschaften

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  1. 1. Daniel Althof

    Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW) (Berlin-Brandenburg Academy of Sciences and Humanities)

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Digitalität in den Geisteswissenschaften

Die Ausgangslage:

Eine
natürliche Verwandtschaft besteht zwischen der Geisteswissenschaft (GW) und dem Text sowie zwischen der Naturwissenschaft (NW) und der Zahl. Gründe hierfür lassen sich in einer Ausdifferenzierung der Wissenschaften finden, die mit dem Ende der großen Systeme der klassischen deutschen Philosophie begonnen hat bzw. intensiviert wurde. Im Zuge dieser Ausdifferenzierung haben sich NW und GW aus erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Gründen
in Abgrenzung zueinander entwickelt. Zugleich hat das Erkenntnisideal der NW einen Rechtfertigungsdruck auf die GW ausgeübt. Denn mit dem Siegeszug der modernen NW wurde die empirisch-experimentelle Wissenschaft zum leitenden Paradigma für objektive Erkenntnis. Wie begründen nun aber die sich jeweils entwickelnden Selbstverständnisse solche natürlichen Verwandtschaftsverhältnisse? Moderne NW bricht mit der Tradition, auch mit der Reflexion des Tradierten, und baut in kritischer Absicht auf Induktion.
Eine moderne Variante ist der Positivismus, der Erkenntnis auf empirisch überprüfbare Methoden stützt und traditionelle Forschung unter Sinnlosigkeitsverdacht stellt.
Durch Entwicklungen in Mathematik und Logik rückt im logischen Positivismus noch mehr die Formalisierungsbestrebung von Erkenntnis ins Zentrum.
Die Grenze zwischen Wissen und Unsinn verläuft damit immer mehr da, wo Erkenntnis formal beschreibbar und empirisch verifizierbar bzw. im kritischen Rationalismus nicht falsifizierbar
ist. Die Beschränkung des Sagbaren auf analytische Sätze oder empirisch fundierte Theorie über quantifizierbare und nomologisch reformulierbare Gegenstände erhebt die formalisierte Idealsprache
bzw. die Formel zur Wahrheit. Das wirkte auch in den GW. Diese Entwicklung fand Befürworter (Helmholtz 1903, Mill 1974)
, aber provozierte bereits früh Kritik und führte zur Ausbildung eines Selbstverständnisses der GW in Opposition zum mathematisch-naturwissenschaftlichen Paradigma. Im Verweis auf die Besonderheit der geisteswissenschaftlichen Gegenstände wurden in logisch-positivistischen Verfahren formulierte Kriterien für Erkenntnis abgelehnt: Nicht die Entdeckung von allgemeinen Gesetzen, sondern die Betrachtung des Individuellen in geschichtlicher Gestalt leitet die GW (Rickert 1986).
Die NW sind nomothetisch, die GW ideographisch (Windelband 1924)
, haben es mit kulturell vermittelten Werten (Rickert 1986)
und erlebnisbasiertem Sinnverstehen (Dilthey 1992)
zu tun, das auch immer eine Selbsterkenntnis mit einschließt (Ritter 1974).
In den GW wird nicht Bezug genommen auf die Konstanz der Gesetze (Natur), sondern auf ein gemeinsames sprachlich vermitteltes Tun (Kultur) (Cassirer 1961).
So spitzt sich die Unterscheidung von Natur- und Geisteswissenschaften darin zu, dass Objektivierungen von Lebensäußerungen
verstanden werden, indem eigenes Erleben herangezogen wird, Naturerscheinungen aber über Gesetze, Statistik und Verallgemeinerung
erklärt werden (Dilthey 1992).
Sinn rekonstruierende Hermeneutik auf Grundlage der überlieferten Tradition als Weiterführung eines Diskurses ist somit in den GW (Gadamer 2010)
, logisch-mathematische Formalisierung basierend auf erhobenen Daten in den NW die naheliegende Heuristik. Die Verwandtschaft von GW und Text bzw. von NW und der Zahl ist so gesehen noch viel strikter, insofern die Heuristik der NW die (natürliche) Sprache, die der GW aber die Formalisierung prinzipiell ausschließt.

Das Problem:

Eine
natürliche Verbindung besteht somit in den (überlieferungsbezogenen) GW zwischen Hermeneutik und dem Forscher, in den NW zwischen den aus Experimenten gewonnenen Daten und dem Computer. Während der Einsatz von Forschern in den NW begrüßt wird, verhält es sich mit dem Einsatz von Computern in den GW ganz anders. Das lässt sich aus der obigen Skizze auch einfach nachvollziehen. Mathematik und Logik bilden die Grundlagendisziplinen sowohl der NW als auch der Informatik. Aufgrund dessen stehen sie auf gleicher Basis und bilden quasi lediglich Spezialgebiete desselben Paradigmas. Aus der Skizze ist aber auch klar, dass aus dem gewonnenen Selbstverständnis der GW der Computer die Antithese zum erklärten Erkenntnisideal bildet. Der Versuch der Digital Humanities (DH), den Computer in den Hoheitsgebieten der GW zum Einsatz zu bringen, stellt sich für viele als eine naive und sinnlose Unternehmung dar, weil algorithmische Formalisierung ein grober Reduktionismus sein muss. Das ist gegenwärtig ein starker Vorbehalt in geisteswissenschaftlichen Institutionen. Die breite Diskussion um die Angemessenheit der neuen Methoden schlägt sich beispielhaft im Thema ‚distant reading‘
nieder.
Generell wird dabei die Reichweite der Quantifizierung und Gefahren wie Verdinglichung problematisiert, die in der zugrundeliegenden Ontologie der Comuterisierung unvermeidlich angelegt sind (Berry 2011)
. Reduktionismus und Simplifizierung (in der Auslegung) literarischer Texte bilden einen Aspekt, der in den GW den Grundkonflikt (aus dem Themenkomplex KI) zwischen Mensch und Maschine wiederspiegelt (Searle 1993).
Neben der Kritik am Umgang mit dem Gegenstand gibt es auch Kritik am Erkenntniswert der aufwändig gewonnenen Daten (Kirsch 2012)
. Ein weiterer, die Disziplin selbst betreffender Aspekt ist die fehlende Selbstreflexion durch alleinige Konzentration auf die Entwicklung von Tools. Sowohl die Methodenreflexion (Liu 2008)
als auch das kritische Potential der Digital Humanities (Liu 2012)
werden nicht ausgeschöpft. Die DH, so die Linie der Kritik, zeigen sich weder dem speziellen Gegenstand der GW, nämlich (hauptsächlich) dem Text, noch den Kernaufgaben der GW, nämlich der Auslegung und der Kritik auch der eigenen Methoden, nicht angemessen.

Der Vortrag:

Die Liste der Einwände könnte sicherlich detailliert fortgeführt werden. Der Vortrag soll jedoch nicht noch einen Grund mehr zu dieser Liste hinzufügen. Vielmehr soll aus der Kernkompetenz der DH, nämlich aus der Digitalisierung, eine intime Verbindung mit den Anliegen der GW herausgearbeitet werden. Es ist also nicht Ziel des Vortrages, die Kluft zwischen den Paradigmen (aus Geistes- und Naturwissenschaften) vermittels einer Rückbesinnung auf eine Kompetenz der GW (äußerlich) zu überbrücken (wie es (Liu 2012)
oder auch (Berry und Fagerjord 2017)
tun). Es ist die Ambition, eine Wesensverwandtschaft in den Heuristiken zu enthüllen, die sich
aus dem Charakter der Digitalität selbst entwickeln lässt. Hermeneutik und Computation
müssen auf diese Weise also nicht extern (über pragmatische Argumente) verklammert, sondern können vermittelt über Digitalität immanent ineinander überführt werden. Auf diese Weise entsteht eine neue
Wahlverwandtschaft zwischen Hermeneutik und Computation. Und so wird eine kleine Theorie der Digitalität zu entwickeln sein, die die Limitation der mathematisch-logische Formalisierung transzendiert. Das Ergebnis ist damit ein Verständnis von Digitalisierung, das den Einsatz von Computern in den GW nicht nur als gewinnbringendes Unterfangen zeigt, sondern sogar als folgenrichtigen Schritt ausweist.

Das reicht zurück bis Francis Bacon, der mit der Scholastik gebrochen hat. Dass Induktion für die Rechtfertigung einer Theorie nicht hinreichend ist und im weiteren Verlauf der Wissenschaftsgeschichte weiter ausdifferenziert werden wird, sei hier der Vollständigkeit halber angemerkt.
Vgl. hier die exemplarischen Positionen von August Comte (Comte 1830-1842)
und John Stuart Mill (Mill 1974)
.

Vgl. den Wiener Kreis, aber auch den frühen Ludwig Wittgenstein (Wittgenstein 1998).
So z.B. bei Karl Popper (Popper 2005).
Vgl. wiederum den Wiener Kreis und besonders Bertrand Russel.
Gewichtige Argumente gegen die Sinnhaftigkeit eines solchen Vorhabens versammelt (Marche 2012)

Ich werde diesen terminus technicus hier verwenden, um damit die computerseitigen Prozesse der Digitalisierung abzubilden, die eine sozio-kulturelle Umwälzung ist. Datenverarbeitung als Alternativ-Begriff wäre zu eng gefasst.

Bibliographie

Berry, D. M. (2011):
Philosophy of Software. Code and Mediation in the Digital Age, Basingstoke, Hampshire: Palgrave Macmillan UK.

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Cassirer, E. (1961): Naturbegriffe und Kulturbegriffe.
Zur Logik der Kulturwissenschaften. Fünf Studien. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

Comte, A. (1830-1842):
Cours de la philosophie positive, Paris: Bachelier.

Dilthey, W. (1992):
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Gadamer, H.-G. (2010):
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Helmholtz, H. L. F. V. (1903):
Über das Verhältnis von Naturwissenschaften zu der Gesammtheit der Wissenschaften, Braunschweig: Vieweg.

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https://newrepublic.com/article/117428/limits-digital-humanities-adam-kirsch [Accessed 22. September 2017].

Liu, A. (2008):
Local Transcendence: Essays on Postmodern Historicism and the Database, Chicago/London: The University of Chicago Press.

Liu, A. (2012): Where is Cultural Criticism in the Digital Humanities?
In: Gold, M. K. (ed.)
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Präludien. Aufsätze und Reden zur Philosophie und ihrer Geschichte. Tübingen: Mohr.

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Logisch-philosophische Abhandlung. Tractatus logico-philosophicus - Kritische Edition, Frankfurt/M.: Suhrkamp.

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In review

DHd - 2018
"Kritik der digitalen vernunft"

Cologne, Germany

Feb. 26, 2018 - March 2, 2018

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Conference website: https://dhd2018.uni-koeln.de/

Contributors: Patrick Helling, Harald Lordick, R. Borges, & Scott Weingart.

Series: DHd (5)

Organizers: DHd

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