Positivismus der geistigen Gegenstände: Carnap und die Digital Humanities

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  1. 1. Stefan Heßbrüggen-Walter

    National Research Unversity Higher School of Economics

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Kritiker der digitalen Geisteswissenschaften machen der Disziplin gerne den Vorwurf des ‚Positivismus‘. Hier kann man drei Tendenzen unterscheiden: (1) Die digitalen Geisteswissenschaften verkennen die grundsätzliche Unangemessenheit quantitativer Argumente in der Auseinandersetzung mit Kunstwerken. (2) Sie ergeben sich ohne Widerstand der Unterordnung kritischer Wissenschaft unter die technokratische Verwertungslogik des Kapitalismus. (3) Sie sind geprägt von irregeleitetem Szientismus, der den ‚formalen Objekten‘, die unsere Kultur ausmachen, nicht gerecht werden kann (so das Referat in Eyers 2013, n. p.). Die letzten beiden Argumentationsstrategien lassen sich auch unter dem Begriff der ‚technopositivistischen Rationalität‘ subsumieren, der die digitalen Geisteswissenschaften verpflichtet sind (Bishop 2018, 126). Kritik am Positivsmus gibt es jedoch nicht nur von Gegnern, sondern auch von Vertretern der digitalen Geisteswissenschaften selbst. Rein quantitative, mechanische, reduktionistische und am Buchstaben klebende Verfahren müssen als positivistisch zurückgewiesen werden (Drucker 2012, 86). Statt positivistischer Ansätze bei der Sammlung und Analyse von Daten müsse ‚reflexiv‘ und unter Einbeziehung von ‚Theorie‘ vorgegangen werden (Neilson et al. 2018, 5).
Doch niemand erklärt, was genau gegen ein positivistisches Verständnis digitaler Forschungspraxen in den Geisteswissenschaften spräche. Bei genauerer Betrachtung kann gerade ein solches positivistisches Selbstbild der Theoriebildung in den digitalen Geisteswissenschaften neue Spielräume eröffnen und zugleich den längst fälligen Dialog zwischen DH und der Wissenschaftsphilosophie weiter vorantreiben. Ich werde mich im folgenden auf einen Text eines Vertreters des sogenannten ‚logischen Positivsmus‘ der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beschränken, Rudolf Carnaps ‚Der logische Aufbau der Welt‘ (1928); die internen Meinungsverschiedenheiten der logischen Positivisten (Creath 2017, passim), die zum Teil auch die hier zu behandelnden Fragen berühren, müssen zunächst außer acht bleiben.
Die folgende Analyse wird sich auf zwei Aspekte der DH beschränken: ihren Gegenstand und ihre Methodik. Zu zeigen ist, dass digitale Objekte im Sinne der DH zugleich Gegenstände der Geisteswissenschaft im Sinne Carnaps sind. Die Methode der DH ist die rationale Rekonstruktion geisteswissenschaftlicher Begründungsweisen im Sinne Carnaps, die wiederum darauf beruht, dass wissenschaftliche Aussagen der digitalen Geisteswissenschaften in einem noch genauer zu bestimmenden Sinne formale Aussagen sind (nämlich auf einer bestimmten Art und Weise der Formalisierung beruhen).

Carnap und die Gegenstände der DH
Carnap erkennt die Existenz ‚geistiger Gegenstände‘ explizit an und weist ausdrücklich darauf hin, dass sie zum Gegenstandsgebiet der Geisteswissenschaften zu zählen sind (Carnap 1928, §23, 29). Die Selbständigkeit dieser Gegenstände sei gerade von Philosophen des 19. Jahrhunderts nicht ausreichend gewürdigt worden (Carnap 1928, §23, 30). Geistige Gegenstände sind nur auf Umwegen empirisch erfahrbar (Carnap 1928, §24, 30). Ihre Existenz setzt zwar mindestens einen Träger voraus. Jedoch können sie persistieren, auch wenn ihre Träger wechseln, und sind auch existent, wenn sie sich nicht in äußerem Verhalten ‚manifestieren‘ (Carnap 1928, §24, 31). Paradigmatische Beispiele solcher Gegenstände sind für Carnap Staaten oder Handlungskonventionen ("Sitten" wie etwa das Lüften des Hutes als Gruß, Carnap 1928, §23, 30). Während die Manifestation geistiger Gegenstände in erster Linie für die Sozialwissenschaften von Belang sein dürfte, ist die zweite Art und Weise, wie uns solche Gegenstände zugänglich sind, für die digitalen Geisteswissenschaften von unmittelbarem Interesse. Die Rede ist von der ‚Dokumentation‘: „Als Dokumentationen eines geistigen Gegenstandes bezeichnen wir dauernde physische Gebilde, in denen das geistige Leben gewissermaßen erstarrt ist, Produkte, dingliche Zeugen und Dokumente des Geistigen.“ (Carnap 1928, §24, 31). Sie stellen für die Geisteswissenschaften die hauptsächlichen Erkenntnisquellen dar, weil "[…] die Erforschung nicht mehr bestehender geistiger Gegenstände (und diese machen ja den größeren Teil des Gebietes aus) fast ausschließlich auf Rückschlüssen aus Dokumentationen beruht, nämlich aus schriftlichen Aufzeichnungen, Abbildungen, gebauten oder geformten Dingen oder dergl." (Carnap 1928, §24, 31f).
Carnaps Begriff des geistigen Gegenstandes ist nahezu deckungsgleich mit der in CIDOC CRM kodifizierten Klasse des ‚begrifflichen Objekts‘ (conceptual object, CIDOC CRM SIG 2015). Begriffliche Objekte sind wie geistige Gegenstände im Sinne Carnaps immateriell und deswegen nicht direkt erfahrbar. Sie benötigen einen Träger, entweder durch Manifestation im menschlichen Geist, oder durch Dokumentation in physischen Gegenständen. Sie sind aber von der Existenz bestimmter individueller Träger unabhängig, sofern weitere geistige oder materielle Träger desselben Begriffsgegenstandes existieren.
Geistige Gegenstände, die uns allein durch die Existenz von Dokumentationen im Carnapschen Sinne zugänglich sind, werden im Rahmen von CIDOC CRM als Informationsobjekte bezeichnet. Ein Informationsobjekt ist ein immaterieller, d. h. nicht direkt erfahrbarer Gegenstand, der eine objektiv erkennbare Struktur aufweist und als Einheit dokumentiert ist. Informationsobjekte sind somit geistige Gegenstände im Sinne Carnaps, die für uns nur durch ihre Dokumentation und nicht durch Manifestation zugänglich sind (CIDOC CRM SIG 2015a). Die digitale Provenienzontologie CRMdig geht noch einen Schritt weiter und spezifiziert digitale Objekte als diejenigen CIDOC CRM Informationsobjekte, die als Mengen von Bit-Sequenzen repräsentiert werden können (Dürr et al. 2016, 6). Sowohl digitale Objekte wie Informationsobjekte insgesamt sind begriffliche Objekte im Sinne von CIDOC CRM und somit geistige Gegenstände im Sinne Carnaps. Der Gegenstandsbegriff der DH, so wie er in grundlegenden Ontologien charakterisiert wird, ist also ‚positivistisch‘, sofern Carnap als Positivist im Sinne der eingangs dargelegten Kritik gelten soll.
Carnap nimmt weiter an, dass alle Gegenstände der Wissenschaften auf sogenannte ‚Grundgegenstände‘ zurückgeführt werden können und dass alle Aussagen der Wissenschaften in Aussagen über solche ‚Grundgegenstände‘ übersetzbar seien. In diesem Sinne müssen alle Aussagen der Wissenschaft ihrer „logischen Bedeutung nach […] von nur einem Gebiet handeln“ (Carnap 1928, §41, 56). Carnap weist jedoch auch darauf hin, dass diese Umformungen in den Einzelwissenschaften nicht immer ausdrücklich vorgenommen werden. „Der logischen Form ihrer Aussagen nach hat es die Wissenschaft daher mit vielen selbständigen Gegenstandsarten zu tun.“ (Carnap 1928, §41, 56).
Für die ‚digital humanities‘ kann aber jedenfalls festgehalten werden, dass es sich bei ihren ‚primären geistigen Gegenständen‘ um digitale Objekte im Sinne von CRMdig handelt, also um als Objekte durch Konvention individuierte Bitströme. Hierin besteht der kennzeichnende Unterschied zu Geisteswissenschaften in Carnaps Sinne, deren primäre geistige Gegenstände durch Manifestationen konstituiert werden (Carnap 1928, §151, 201). Was nicht als digitales Objekt vorliegt, kann nicht zum Gegenstand der DH gerechnet werden. Ob diese primären geistigen Gegenstände der DH in einer projektierten Einheitswissenschaft noch weiter auf andere rückführbar wären, kann für unsere Zwecke dahingestellt bleiben.

Carnap und die Methode der DH
Der methodische Eigensinn der digitalen Geisteswissenschaften im Vergleich mit der herkömmlichen Geisteswissenschaft ist jedoch nicht auf den Primat des digitalen Objekts beschränkt. Dies erhellt aus dem Vergleich mit dem Verständnis der mathematischen Naturwissenschaft, wie es bei Carnap vorliegt. Die physikalische Welt entsteht durch Messung bzw. die Zuschreibung von ‚physikalischen Zustandsgrößen‘" (Carnap 1928, §136, 180), denn: „Die Notwendigkeit der Konstitution der physikalischen Welt beruht […] auf dem Umstand, daß nur diese, nicht aber die Wahrnehmungswelt, die Möglichkeit eindeutiger, widerspruchsfreier Intersubjektivierung gibt.“ (Carnap 1928, §136, 180). Und ohne ‚Intersubjektivierung‘ gibt es keine Wissenschaft: „Die intersubjektive Welt […] bildet das eigentliche Gegenstandsgebiet der Wissenschaft.“ (Carnap 1928, §149, 200) Subjektive Aussagen können dann miteinbezogen werden, wenn sie ausdrücklich als solche ausgewiesen werden (Carnap 1928, §149, 200).
Digitale Objekte sind allerdings nicht bloß Quanta, sondern Träger von Informationen. Deswegen wird in den digitalen Geisteswissenschaften nicht, wie in den mathematischen Naturwissenschaften, quantifiziert, sondern formalisiert. Der Vieldeutigkeit dieses Begriffs ist die einschlägige Theoriebildung bislang aus dem Weg gegangen, was weniger verwundert, wenn man sich vergegenwärtigt, dass die philosophiehistorische Analyse nicht weniger als acht unterschiedliche Bedeutungen des Begriffs des Formalen alleine für die Logik ausweist (Dutilh Novaes 2011, 304). Eine dieser acht Bedeutungen ist jedoch hier unmittelbar einschlägig, nämlich die des Formalen als Berechenbarkeit: sowohl die wohlgeformten Ausdrücke eines Kalküls wie auch deren Transformationen lassen sich durch die mechanische Anwendung eindeutiger Regeln generieren (Dutilh Novaes 2011, 323). Formalisierung in diesem Sinne bedeutet dann, Objekte für eine Bearbeitung mithilfe solcher eindeutiger Regeln tauglich zu machen. In der Terminologie von CIDOC CRM besteht Formalisierung also darin, Informationsobjekte zu digitalen Objekten zu transformieren bzw., sehr viel einfacher gesagt, sie zu digitalisieren (mutatis mutandis dürfte Ähnliches für Bild- oder Klangobjekte gelten, auch wenn sie nicht unter den Begriff des Informationsobjekts fallen). Digitale Objekte als solche sind also schon formalisiert, weil sie als Bits vorliegen, die weiteren rechnenden Transformationen zugänglich sind. Weiter unterscheiden sich die ‚epistemischen Dinge‘ der DH untereinander nur durch den Grad ihrer Strukturierung (Trilcke/Fischer 2018, Abschn. 3).
Damit ist offensichtlich, dass die theoretischen Aussagen der digitalen Geisteswissenschaft von sich aus schon zum Bereich der Carnapschen intersubjektiv begründeten Wissenschaft gehören, da sie idealerweise für jeden nachvollziehbar sind. Dann aber ist digitale Geisteswissenschaft die ‚rationale Nachkonstruktion‘ herkömmlicher geisteswissenschaftlicher Forschung. Carnap erläutert den Sinn dieser Methodik anhand eines Beispiels aus der Biologie: „Der Botaniker muß sich bei der Nachkonstruktion der Erkennung der Pflanze fragen. Was war in der erlebten Wiederkennung das eigentlich Gesehene, und was war daran die apperzeptive Verarbeitung?; aber er kann doch diese beiden im Ergebnis vereinten Komponenten nur durch Abstraktion trennen.“ (Carnap 1928, §100, 139) In gleicher Weise zwingen uns die Methoden der digitalen Geisteswissenschaften, das eigentlich Gegebene auf dem Wege ‚methodischer Abstraktion‘ von dessen ‚apperzeptiver Verarbeitung‘ zu trennen, intersubjektiv zu verteidigende Aussagen von solchen, die subjektiv bleiben, explizit zu unterscheiden.
Ich habe eingangs behauptet, dass ein positivistisches Verständnis der digital humanities neue Spielräume eröffnen würde. Hierfür wäre auf dem Hintergrund des Gesagten wie folgt zu argumentieren: Die digital humanities operieren mit Gegenständen, die bereits als das Resultat einer Formalisierung, nämlich der Digitalisierung, anzusehen sind. Nur in diesem Sinne formalisierte Gegenstände können nämlich weiter durch rechnende Transformationen untersucht werden. Gegenstand der DH ist also das digitale Objekt. Transformationen von digitalen Objekten sind intersubjektiv nachvollziehbar und gehören damit unfraglich in den von Carnap umrissenen Bereich der Wissenschaft, die ‚intersubjektive Welt‘. Damit ist der Bereich dessen, was in den DH nach Carnap Wissenschaft sein kann, jedoch noch nicht erschöpft. Subjektive Aussagen müssen nicht aus dem Bereich der Wissenschaft entfernt werden. Sie müssen nur explizit als solche ausgewiesen werden. Gerade positivistische digitale Geisteswissenschaftler müssen also nicht ‚am digitalen Buchstaben kleben‘. Sie sind allerdings gezwungen, die nicht durch Daten selbst ausgewiesenen Aussagen explizit als solche zu kennzeichnen. Diese Form der methodischen Selbstreflexion macht es möglich, sich mit anderen über den Bereich des Subjektiven streitbar auseinanderzusetzen. Hierin, so meine ich, liegt der methodologische Gewinn der digitalen Geisteswissenschaften für die Geisteswissenschaften als ganze, wenn wir digitale Geisteswissenschaft im hier entwickelten Sinn als positivistische auffassen.

Bibliographie

Bishop, Claire (2018): „Against Digital Art History“, in: International Journal for Digital Art History, no. 3 (July).
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Carnap, Rudolf (1928): Der logische Aufbau der Welt. Berlin-Schlachtensee: Weltkreis-Verlag.

CIDOM CRM SIG (2015): E28 Conceptual Object | CIDOC CRM‘.
. [Letzter Zugriff: 22. September 2019]-

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Creath, Richard (2017):
‘Logical Empiricism’, in: The Stanford Encyclopedia of Philosophy, hg. v. Edward N. Zalta, Fall 2017. Metaphysics Research Lab, Stanford University.
[Letzter Zugriff: 22. September 2019].

Doerr, Martin, et al. (2016):
Definition of the CRMdig: An Extension of CIDOC-CRM to support provenance metadata, Version 3.2.1.
[Letzter Zugriff: 22. September 2019].

Drucker, Johanna (2012): 'Humanistic Theory and Digital Scholarship', in: Gold, Matthew K., (ed). Debates in the Digital Humanities. Minneapolis, Minn.: Univ. of Minnesota Press, 85-95.

Dutilh Novaes, Catarina (2011): 'The Different Ways in which Logic is (said to be) Formal', in: History and Philosophy of Logic, 32:4, 303-332.

Eyers, Tom (2013):
‘The Perils of the “Digital Humanities”: New Positivisms and the Fate of Literary Theory’. Postmodern Culture 23 (2).
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Levenberg, Lewis / Neilson, Tai (2018):
Research Methods for the Digital Humanities. Cham, Switzerland: Palgrave Macmillan.

Trilcke, Peer / Fischer, Frank (2018):
‚Literaturwissenschaft als Hackathon. Zur Praxeologie der Digital Literary Studies und ihren epistemischen Dingen.‘ In: Huber, Martin/Krämer, Sybille (eds.), Wie Digitalität die Geisteswissenschaften verändert: Neue Forschungsgegenstände und Methoden. (= Sonderband der Zeitschrift für digitale Geisteswissenschaften, 3).
[Letzter Zugriff: 22. September 2019].

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DHd - 2020
"Digital Humanities zwischen Modellierung und Interpretation"

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March 2, 2020 - March 6, 2020

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Contributors: Patrick Helling, Harald Lordick, R. Borges, & Scott Weingart.

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