Die Falte: Ein Denkraum für interaktive und kritische Datenvisualisierungen

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Authorship
  1. 1. Viktoria Brüggemann

    Fachhochschule Potsdam (FHP / University of Applied Sciences Potsdam)

  2. 2. Mark-Jan Bludau

    Fachhochschule Potsdam (FHP / University of Applied Sciences Potsdam)

  3. 3. Marian Dörk

    Fachhochschule Potsdam (FHP / University of Applied Sciences Potsdam)

Work text
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Einführung
Obwohl die Geisteswissenschaften verstärkt auf Möglichkeiten der Datenvisualisierung zurückgreifen, bleibt es eine Herausforderung, interaktive visuelle Repräsentationen zu erzeugen, die erkenntnisreich und kritisch, aber auch zugänglich und ansprechend sind. Zu selten sind Beziehungen zwischen dem einzelnen Objekt und der ganzen Sammlung, sowie animierte Übergänge zwischen Ansichten bedacht und bewusst gestaltet (Chevalier et al. 2016). Obwohl sich die vielfältigen kulturellen Sammlungen zweifellos für digitale Realisierungen eignen, ist eine Umsetzung der ihnen zugeschriebenen Qualitäten in reichhaltige und kohärente Datenvisualisierungen sowohl theoretisch als auch praktisch oft noch nicht ausreichend.
Wir schlagen den vom französischen Philosophen Gilles Deleuze (Deleuze 1996) entwickelten Begriff der Falte als Denkraum für die Interpretation und Gestaltung interaktiver Visualisierungen vor. Die Falte bietet eine vielversprechende Perspektive auf Wissensräume und deren Repräsentation und wirft ein kritisches Licht auf die zugrunde liegenden Daten und ihre Komplexität. Anhand von Illustrationen stellen wir Operationen und Qualitäten der Falte vor und diskutieren, wie aus ihnen eine kritische Perspektive auf interaktive Datenvisualisierungen und Orientierungshilfe für deren geisteswissenschaftlichen Einsatz erwachsen kann.

Die Falte
In „Die Falte. Leibniz und der Barock“ (1988) bezieht sich Gilles Deleuze auf Leibniz' Monadologiebegriff, der eine dualistische Ontologie ablehnte und stattdessen die Monade als Grundbaustein der materiellen Welt etablierte (Leibniz 1898). Leibniz stellte sich die Seele als Monade vor, ein Haus ohne Türen und Fenster, in dem sich die Außenwelt nur als Innenbild widerspiegelt (Wagner 1995). Deleuze rekonstruiert Leibniz' Philosophie als barocke Metaphysik, die in seinem Sinne die Falte als Element der unendlichen Wiederholung enthält (Laerke 2010). Die Monade in Deleuzes Sinn ist auf zwei Ebenen mit Falten gefüllt: den „Faltungen der Materie“ und den „Falten der Seele“, die abgegrenzt und doch kontinuierlich miteinander verwoben sind. Diese Metapher bezieht sich auch auf den menschlichen Körper und die menschliche Seele und macht Prozesse der Informationsinterpretation und -akkumulation verständlich: Würde man mit einer Information auf der Ebene der Sinne konfrontiert, würden sich die Falten der Materie automatisch in Bewegung versetzen, woraufhin die resultierenden Verbindungen zu anderen Informationen sichtbar würden. Jede Information ist somit in den unendlichen (und „virtuellen“) Faltungen der Seele bereits angelegt, sie wird aber erst durch den Prozess des Faltens und Entfaltens sichtbar.
Die Operationen der Falte

Abbildung 1. Die Operationen der Falte illustriert: Explikation und Implikation (links), Komplikation (rechts).

Für Deleuze bilden die drei Operationen „Explizieren-Implizieren-Komplizieren“ die Triade der Falte (Deleuze 1996, 45). Die ersten beiden Operationen müssen als ein Paar verstanden werden, bei dem das Eine das Andere umkehrt. Explizieren beschreibt den Prozess der Entfaltung, z.B. das Öffnen eines Buches oder das Ausfächern in Unterabschnitte (siehe Abb. 1, links). Im Gegenteil bezieht sich das Implizieren auf den Prozess des Faltens, der etwas in Größe und Detail reduziert. Wenn etwas in der Monade durch den Prozess der Implikation verborgen wird, umfasst das Gefaltete immer noch alles andere, auch wenn dies nicht immer wahrnehmbar ist. Durch die Explikation werden versteckte Verbindungen wieder sichtbar, wobei das Entfaltete seine Verbindung zum Ursprungspunkt nicht verliert und nahezu unendliche Verbindungen zu anderen Punkten besitzen kann.
Beim Ein- und Ausfalten können daher unvorhersehbare Ergebnisse und neue Verbindungen entstehen, da eine Faltung das plötzliche Nebeneinander von ehemals gegenüberliegenden Punkten erzeugen kann. An dieser Stelle führt Deleuze die Komplikation als dritte Operation der Falte ein (siehe Abb. 1, rechts). Die Funktionsweise der Komplikation erklärt den Prozess der Informationsakkumulation und Vernetzung von allem Wahrnehmbaren, während sie andererseits dessen Beliebigkeit anspricht. Da alles in der Monade zur Unendlichkeit gefaltet ist, liegt jede Möglichkeit bereits in ihr, auch wenn sie zu keinem Zeitpunkt in ihrer Gesamtheit zu erfassen ist. Überraschende Ereignisse sind also nicht mehr als ein „komplizierter“ Faltprozess, bei dem die Verbindungen neu geordnet werden und jeweils nur ein Teil des verbundenen Universums sichtbar wird.
Die Qualitäten der Falte
Deleuzes Theorie der Falte lädt dazu ein, die dynamischen Eigenschaften digitaler Informationsräume näher zu betrachten. Im Folgenden beleuchten wir drei hervorstechende Qualitäten näher:

Kohärenz: Anstatt Informationspunkte als diskrete Objekte zu betrachten, drückt die Falte die kohärente Qualität monadologischer Strukturen aus, die durch Kontexte und Beziehungen definiert sind. Diese Qualität vervielfacht sich unendlich: Unabhängig davon, wie weit ein Informationsraum durchlaufen wird, besitzt jede Ausgabe oder jeder Informationspunkt einen Bezug zum Beginn der Suchanfrage oder zum gesamten Universum.

Elastizität: Diese Qualität erfasst die ständige Bewegung von Informationen, Gedanken oder Verbindungen, bei dem ein Impuls dem anderen folgt. Durch ihre Faltbarkeit können einzelne Elemente und ganze Anordnungen mehrere mögliche Erscheinungsformen annehmen und ihre Form und Richtung ändern, was zu flexiblen Prozessen des Dehnens und Verzerrens führt, ohne jedoch das erste Prinzip der Kohärenz aufzugeben.

Unendlichkeit: Da die Falte unendliche Möglichkeiten bietet, bleiben die Faltprozesse bis zu einem gewissen Grad unvorhersehbar und zufällig. Dies bedeutet nicht, dass Faltungen nicht auch wiederholbar oder rückverfolgbar sind, sondern dass sie nie als endgültig oder abgeschlossen gelten können. Die Qualität der Unendlichkeit ist stark mit der Operation der Komplikation verbunden und erinnert daran, dass Informationsräume auf den ersten Blick strukturiert und transparent erscheinen mögen, aber stark von der Perspektive der Betrachter*innen und einer Vielzahl von Datendimensionen abhängig sind.

Ein Denkraum für die Datenvisualisierung
Die Falte bietet eine einzigartige, kritische Perspektive auf die Form und Funktion von Informationsstrukturen. Die fortwährende Unvollständigkeit von Erkenntnisprozessen macht diese Theorie so relevant für die Datenvisualisierung, die darauf abzielt, komplexe Sachverhalte zu kommunizieren, aber ihre Auslassungen und Reduktionen transparent machen muss. Mit der zunehmenden Relevanz der Datenvisualisierung in den digitalen Geisteswissenschaften wächst ebenso die Notwendigkeit, sich mit der Interaktivität als einem ihrer wesentlichen Aspekte auseinanderzusetzen. Visualisierungen entlang der Falte zu entwerfen und analysieren bedeutet, Informationsräume als elastische, kohärente und potenziell unendliche Räume zu verstehen. Im Folgenden stellen wir anhand von beispielhaften Illustrationen dar, wie Operationen der Falte bereits in existierenden Visualisierungen umgesetzt werden und wie die formulierten Qualitäten den Gestaltungsprozess unterstützen können.

Abbildung 2. Beispiele für Explikation (von oben nach unten) und Implikation (umgekehrt) in Datenvisualisierungen: a) Das Entfalten eines Netzwerkgraphen zeigt detaillierte Nachbarschaftsbeziehungen des ausgewählten Knotens. b) Das Ausdehnen eines ausgewählten Bereichs eines Streamgraphen führt zur Detailerhöhung im ausgewählten und zur Kompression der nicht ausgewählten Bereiche. c) Die Auswahl eines Elements in einem Baumdiagramm öffnet zusätzliche Unterzweige, wobei durch Kompression der übrigen Zweige neuer Raum geschaffen wird.

Die Kohärenz der Falte manifestiert sich in der tiefen Kontextualisierung und Vernetzung aller Elemente. Um diesen hohen Grad an Kohärenz in interaktiven Visualisierungen zu realisieren, müssen die visuelle Kodierung und die interaktiven Funktionen konsequent über alle Ansichten hinweg gekoppelt werden. Abbildung 2 zeigt, wie sich einzelne Aktionen auf die gesamte Visualisierung auswirken können, beispielsweise wenn bestimmte Bereiche komprimiert werden, ohne dabei den Zusammenhang zum Rest zu verlieren. Die Gestaltung der jeweiligen Übergänge sollte sinnvoll und konsistent sein, ebenso wie konsistente Designentscheidungen über die gesamte Visualisierung, unabhängig vom dynamischen Zustand, getroffen werden sollten.

Ein hohes Maß an
Elastizität bedeutet, dass Elemente flexibel in eine Anordnung eingebettet sind und dass sie in der Lage sind, ihre Form zu verändern oder ihre Ausgangsposition zu verlassen. Sie können sich so immer wieder neu zeigen - auch in unvorhergesehenen Darstellungen. Abbildung 3 a) zeigt eine Zeitachse, welche entgegen ihrer linearen Anordnung flexible Positionierungen zulässt, welche auf der veränderten Kodierung ihrer einzelnen Informationspunkte beruht. Während in einer elastischen Visualisierung nichts vollständig fixiert ist, sind Bewegungen jedoch auch nicht unbegrenzt dem Zufall überlassen. Das Spektrum der dynamischen Veränderungen einzelner Elemente und ganzer Anordnungen sollte daher sorgfältig abgewogen werden.

Die Qualität der
Unendlichkeit bezieht sich auf eine Darstellungsvielfalt und -kontinuität, zum Beispiel durch verschiedene Kombinationen von visuellen Formen und interaktiven Funktionalitäten sowie kreisförmige oder offene Navigationsmechanismen. Dies kann neue Ausdrücke eines Datensatzes und eine Vielzahl von möglicherweise unerwarteten Entdeckungen hervorrufen, wie sie das Konzept der Serendipität hervorhebt (Leong et al. 2011, Thudt et al. 2012). Des Weiteren sollte eine kontinuierliche Navigation zwischen verschiedenen Visualisierungszuständen möglich sein, ohne eine Fokussierung auf bestimmte Teile vorzunehmen.

Abbildung 3. Komplikationsbeispiele: a) Faltung einer Zeitachse basierend auf der Ähnlichkeit zwischen Datenpunkten. b) Verwendung von mehrdimensionalen Reduktionstechniken in Kombination mit kodierten Glyphen zur schrittweisen Hinzufügung weiterer Dimensionen. c) Umschalten zwischen egozentrischen und nicht-zentrischen Gesamtzuständen eines Netzwerkdiagramms.

Mit der Falte schlagen wir einen Ansatz vor, der die Notwendigkeit einer gleichzeitigen und koordinierten Betrachtung von Interaktion und Repräsentation in der Datenvisualisierung betont. Während die Herausforderungen kultureller Daten und ihrer Umsetzung in Visualisierungen bereits kritische Aufmerksamkeit erlangt haben, werden die Chancen von Interaktionstechniken zu diesem Zweck bisher wenig diskutiert. Nicht nur die Konzeption einer visuellen Kodierung von Informationsräumen, sondern Interaktion und Übergänge zwischen verschiedenen Zuständen sind entscheidend für die Entwicklung überraschender Visualisierungen im Sinne der Falte.
Darüber hinaus können die zugrunde liegenden Daten selbst als Falten betrachtet werden, was uns daran erinnert, dass jede Perspektive nur eine mögliche Version der Realität darstellt, während sie unendlich viele andere Möglichkeiten in sich einschließt. Die häufige Ansicht von Daten als „gegeben“ (Drucker 2011), „objektiv“ oder „unveränderlich“, wird durch die Theorie der Falte in Frage gestellt. Diese Perspektive ist besonders relevant im Zusammenhang mit kritischen Sichtweisen auf die Macht und Rhetorik von Daten und ihrer Repräsentation (D'Ignazio et al. 2016, Dörk et al. 2013, Hullman und Diakopoulos 2011). Die Falte bietet hier einen Denkraum, welcher zu einer kritischen Analyse und Gestaltung von interaktiven Datenvisualisierungen anregt.

Bibliographie

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Conference Info

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DHd - 2020
"Digital Humanities zwischen Modellierung und Interpretation"

Hosted at Universität Paderborn

Paderborn, Germany

March 2, 2020 - March 6, 2020

130 works by 319 authors indexed

Conference website: https://zenodo.org/record/3666690

Contributors: Patrick Helling, Harald Lordick, R. Borges, & Scott Weingart.

Series: DHd (7)

Organizers: DHd