Raise your voice! - Über den Zusammenhang zwischen Lautstärkemerkmalen in literarischen Prosatexten und der Emanzipation der Frau von 1848 bis 1920

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Authorship
  1. 1. Svenja Guhr

    Fachbereich Architektur, Digitales Gestalten / TU Darmstadt

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Mein im Rahmen des
Doctoral Consortiums vorzustellendes Dissertationsvorhaben befindet sich noch in seinen Anfängen. Verortet als interdisziplinäres Projekt berührt es die Forschungsbereiche der Digital Philology spezialisiert auf neuere deutsche Literaturwissenschaft, Bereiche der historischen Gender Studies mit Fokus auf weibliche Emanzipationsprozesse im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert sowie Bereiche der deutschen Linguistik. Mein Projekt setzt sich mit der Analyse von Lautstärkemerkmalen in deutschsprachigen literarischen Prosatexten von 1848 bis 1920 im Kontext der Emanzipation der Frau auseinander.

Haupthypothese
Die Untersuchungen bauen auf der Hypothese auf, dass in der Mitte
des 19. Jahrhunderts Frauenfiguren in literarischen Prosatexten
prozentual weniger, kürzere und leisere Redebeiträge zugeschrieben
werden als männlichen Figuren, was sich jedoch mit der ansteigenden
Emanzipation der Frau verändert. Das Projekt zielt darauf
herauszufinden, ob sich Frauen- und Männerfiguren im Verlauf der
betrachteten Zeitperiode in ihrer Anzahl an Redebeiträgen und ihrer
Lautstärke annähern. Die steigende Lautstärke zeichnet sich dabei
durch eine „lautere“ Beschreibung von Redebeiträgen aus, die
u.a. durch als „lauter“ wahrnehmbare redeeinleitende Verben
gekennzeichnet sind.

Lautstärke als (audio-)narratologisches Element
Lautstärke wird dabei als ein narratologisches Element betrachtet, das in der Literaturwissenschaft bisher nur wenig Aufmerksamkeit erhalten hat. Der Umgang mit Erzählformen und Diskursen als ein wichtiges Kriterium der Narratologie fand seine Erweiterung durch das neue Forschungsfeld der Audionarratologie. Diese widmet sich u.a. der Relation zwischen Narrativen und den in der Lesevorstellung bei der stillen Lektüre erlebten Geräuschen, Tönen und Dynamik (Mildorf / Kinzel 2016; Kuzmičová 2013). Literarische Texte beinhalten neben Beschreibungen von natürlichen und industriellen Geräuschen (z.B. Natur- und Maschinengeräusche) auch Wiedergaben von Figurenrede. Insbesondere in Prosa ordnen Autoren und Autorinnen (i. F. generisches Femininum) ihren Figuren durch beschreibende Einleitungen von Redebeiträgen Stimmen zu, die in den Gedanken von Rezipientinnen wahrzunehmen sind. Ein neuer Ansatz der Figurenanalyse findet in der Betrachtung von Tönen, Lautstärke und Stimmvolumen in literarischen Prosatexten Anwendung. Vor allem die redeeinleitenden Verben, die direkte wie indirekte Redebeiträge einleiten und somit die Art und Weise der Figurenrede beschreiben, ermöglichen den Rezipientinnen die Wahrnehmung von Figurenstimmen und -lautstärke, z.B. ob eine Figur schreit oder flüstert. In Anlehnung an Hunt (2017), die in ihrer Studie ein Korpus aus anglophoner Kinder- und Jungendliteratur auf stereotypische Rollendarstellungen untersuchte, die sie anhand der „gendered nature“ von redeeinleitenden Verben herausstellte, wird auch in meinem Forschungsprojekt eine genderdifferenzierte Betrachtung dieser Verbgruppe vorgenommen. In Hunts Ausführungen stützt sie sich auf Caldas-Coulthards (1992) Unterscheidung von redeeinleitenden Verben in neutrale (z.B.
sagen) und illokutive (z.B.
befehlen) Verben, wobei Hunt herausfand, dass in ihrem Untersuchungskorpus männlichen Figuren durchschnittlich eher redeeinleitende Verben zugeordnet wurden, die höhere Lautstärke und Macht (z.B.
brülllen) widerspiegeln, während Frauenfiguren „triviale Emotionsäußerungen, Schwäche und hohe Tonlagen“ (Hunt 2017: 2; Übersetzung modifiziert) (z.B.
jammern,
kreischen) zugeschrieben würden (Hunt 2017).

Ziel der Untersuchung und Sub- hypothesen
Ziel der Lautstärkeuntersuchung ist es herauszufinden, ob es einen Zusammenhang zwischen der beschriebenen Sprechweise weiblicher Prosafiguren und der ansteigenden Emanzipation der Frau in der deutschsprachigen Gesellschaft ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zum Erhalt des deutschen Frauenwahlrechts 1919 gibt (erweitert um das Jahr 1920, damit die Auswirkungen der Einführung des Frauenwahlrechtes mit aufgenommen werden).
Weitere Unterhypothesen beschäftigen sich mit dem Zusammenhang zwischen der beschriebenen Lautstärke einer Frauenfigur mit ihrem Bildungsstand sowie ihrer gesellschaftlichen Stellung. Weiterhin wird untersucht, ob Frauenfiguren in der Öffentlichkeit leiser beschrieben werden als im privaten Raum (vgl. Howe 2000). Darüber hinaus soll herausgestellt werden, ob Frauenfiguren in Anwesenheit von Männerfiguren leiser dargestellt werden als in der alleinigen Gesellschaft von Frauenfiguren, wobei untersucht wird, ob die plötzliche Anwesenheit auch nur einer Männerfigur in einem weiblichen Beisammensein die Art und Weise, in der Frauenfiguren miteinander sprechen, beeinflusst und ob diese Verhaltensänderung von der Beziehung der anwesenden männlichen Figur zu den Frauenfiguren (z.B. Vater, Bruder, Cousin, Fremder, Arbeitgeber, etc.) abhängt.

Korpusaufbau
Die Studie basiert auf der Analyse eines deutschsprachigen Korpus bestehend aus literarischen Prosatexten (Ziel: ca. 500). Das betrachtete thematische Korpus (vgl. Baker 2007: 26, Gür-Şeker 2014: 585) befindet sich aktuell (Stand: Januar 2020) noch in der Erstellungsphase, wobei auch auf existierende und teilweise bereits annotierte Korpora wie z.B. auf das Redewiedergabekorpus der Kooperation zwischen dem Leibniz-Institut für Deutsche Sprache, Mannheim und der Universität Würzburg (Brunner et al.) zurückgegriffen werden wird. Die strömungsübergreifend deutschsprachigen Prosatexte werden nach den folgenden Kriterien ausgewählt: deutschsprachig, Zeit der Publikation zwischen 1848 und 1920,
histoire (vgl. Genette 1972) spielt im zentraleuropäisch-deutschsprachigen Raum nach 1848, min. 20% der ausgewählten Texte von Autorinnen (Ziel), Vorkommen von Hoch- und Trivialliteratur.

Erste Probeanalysen und Online- umfrage
Für einen ersten Analyseansatz wurde ein Probekorpus erstellt, das 80 deutschsprachige Prosatexte umfasst und in zwei vergleichbare Subkorpora unterteilt wurde (2x 40 Prosatexte). Bei der Erstellung wurden die Texte nach den zuvor genannten Kriterien ausgewählt, wobei der Fokus auf die zwei Zeiträume 1865-75 und 1885-95 gelegt wurde, in denen jeweils eine überregional bedeutende Frauenrechtsaktion stattfand (Richards 2004).
Das Probekorpus diente als Grundlage zur Entwicklung einer regelbasierten Methode, mit deren Hilfe redeeinleitende Verben sowie die sie umgebenden Adjektive, Adverbien (z.B.
sagte mit lauter Stimme, sagte leise) und Namen der sprechenden Figuren extrahiert werden. Der angewandte Algorithmus gründet sich auf den sprachspezifisch morphologischen und syntaktischen Eigenschaften der deutschen redeeinleitenden Verben hinsichtlich ihrer Konstruktion und bevorzugten Anwendung in Vergangenheits- und Gegenwartsform sowie ihrer zum Teil durch Interpunktion (z.B. Anführungszeichen) aufgezeigten Nähe zur in-/direkten Rede. Darauf aufbauend wurden Lautstärkeprofile der sprechenden Figuren erstellt, die anschließend als Grundlage für einen genderorientierten Vergleich von männlichen und weiblichen Figurenbeiträgen und Sprechweisen in literarischen Prosatexten dienen. Die Lautstärkewerte zur Erstellung der Lautstärkefigurenprofile wurden den Ergebnissen einer zuvor durchgeführten Onlineumfrage (im Sommer 2018) zu 20 redeeinleitenden Verben entnommen. In der Umfrage wurden 45 deutsche Muttersprachlerinnen gebeten, in einem Vergleich desselben Satzes, der von zwei verschiedenen redeeinleitenden Verben eingeführt wurde, das jeweils lautere redeeinleitende Verb auszuwählen (Umfragebeispiel:
Marie schreit: Die Sonne scheint. vs.
Marie flüstert: Die Sonne scheint.). Durch die Umfrage ergaben sich Informationen zur Unterschiedlichkeit der durch redeeinleitende Verben erzeugten dynamischen Lesewahrnehmung von Redebeiträgen durch die Rezipientinnen. In Abgleich der untersuchten Verbauswahl konnte ein erstes Lautstärkediagramm mit Werten erstellt werden, die sich aus den erhaltenen Dynamikabstufungen der Surveyergebnisse ergaben und schließlich zur Erstellung erster Lautstärkefigurenprofile verwendet wurden.

Ausblick
Im Laufe des Dissertationsvorhabens sollen die Untersuchungen zur
Lautstärkewertzuweisung zu redeeinleitenden Verben in einem
umfangreicheren und wissenschaftlich fundierten Verfahren wiederholt
werden. Zudem werden methodische Herausforderungen wie die Auflösung
von Koreferenzen und Anaphern sowie die Erkennung von (unregelmäßigen)
Redebeiträgen, Szenengrenzen und Figurenkonstellationen einen großen
Bestandteil meiner Forschung einnehmen.

Bibliographie

Baker, Paul
(2010):
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Brunner, Annelen / Engelberg, Stefan / Tu, Ngoc Duyen Tanja / Jannidis, Fotis / Weimer, Lukas
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Elemente der Narratologie.
Berlin: De Gruyter.

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Conference Info

Incomplete

DHd - 2020
"Digital Humanities zwischen Modellierung und Interpretation"

Hosted at Universität Paderborn

Paderborn, Germany

March 2, 2020 - March 6, 2020

130 works by 319 authors indexed

Conference website: https://zenodo.org/record/3666690

Contributors: Patrick Helling, Harald Lordick, R. Borges, & Scott Weingart.

Series: DHd (7)

Organizers: DHd