Unsichtbares sichtbar machen - semantische Modellierung interpretativer Vorgänge am Beispiel der historischen Bestandsaufnahme der Brandenburgisch-Preußischen Kunstkammern

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Authorship
  1. 1. Sarah Wagner

    Humboldt-Universität zu Berlin (Humboldt University)

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Einleitung
Bei der Analyse historischer Quellen sind Wissenschaftler häufig mit Unschärfen, Lücken oder auch Mehrdeutigkeiten konfrontiert. Aufgrund ihrer Historizität geht die Bearbeitung stets mit interpretativen Vorgängen einher, da die Informationen nicht objektiv gegeben, sondern subjektiv und von individuellen Erfahrungen und kulturellen Mustern geprägt sind (vgl. Büttner 2014:17). Wie können bei der Entwicklung von Datenmodellen, die auf Forschungsgegenstand und -fragestellung zugeschnitten sein sollen, historische Unschärfen und deren Interpretationsvorgänge abgebildet werden, damit die Daten semantisch erschlossen und formalisiert werden können? Wie können Auslegungen transparent und nachvollziehbar dokumentiert werden? Und wie können Spielräume geschaffen werden, um dem stetigen Neuverhandeln von Rückschlüssen sowie der Abbildung von Mehrdeutigkeiten gerecht zu werden?
Am Beispiel der historischen Bestandsaufnahme der Brandenburgisch-Preußischen Kunstkammern werden im Folgenden anhand der Beschaffenheiten des Forschungsgegenstands sowie der Zielsetzung und Grundlagen des Projekts Anforderungen an ein Datenmodell formuliert und erste Ansätze skizziert.

Ziel, Forschungsgegenstand und Grundlagen des Projekts
Im Kooperationsprojekt „Das Fenster zur Natur und Kunst – Eine historisch-kritische Aufarbeitung der Brandenburgisch-Preußischen Kunstkammer”
widmen sich die Staatlichen Museen zu Berlin, die Humboldt-Universität zu Berlin und das Museum für Naturkunde Berlin der Geschichte und Analyse der königlichen Kunstkammerbestände (vgl. zuletzt Dolezel 2019), die einst im Berliner Stadtschloss beherbergt waren.

Diese Bestände bilden heute den Grundstock zahlreicher Berliner Museen und umfassten einst Objekte der Kunst, der Natur und der Wissenschaft, die in ein komplexes Beziehungs- und Bedeutungsgeflecht eingebettet waren. Ihre Konstellation und räumliche Ausdehnung war von einer steten Dynamik geprägt, bedingt durch Zu- und Abgänge einzelner Objekte oder ganzer Teilbestände. Und so wie neue Sammlungskomplexe aus den Berliner Kunstkammerbeständen hervorgingen, so wurden auch sie selbst aus früheren Sammlungen geformt. Dabei lag jeder Sammlung ein individuelles Ordnungssystem zugrunde, das beispielsweise den Wissensstand oder Geschmack der Zeit reflektieren konnte, zugleich in Abhängigkeit mit der Funktion der Sammlung und der Intention ihres Eigentümers stand. Aufgrund dessen ist auch nicht von einer Brandenburgisch-Preußischen Kunstkammer auszugehen, sondern von verschiedenen Sammlungen, die sich zwischen dem 16. und der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stetig neu formierten, ihren Namen aber beibehielten. Es kann daher nicht der Anspruch sein, eine Rekonstruktion einer bestimmten Sammlungssituation zu einem bestimmten Zeitpunkt vorzunehmen. Ziel ist es vielmehr, anhand noch erhaltener, aber auch verschollen gegangener Objekte zu analysieren, inwiefern diese als materielle Träger von Bedeutung zu unterschiedlichen Zeitpunkten betrachtet und bewertet wurden, und wie sich der Zugriff auf sie gestaltete. Denn die einzige Konstante im Kreislauf von Formierung und Auflösung der Bestandskomplexe ist das Objekt in seiner physischen Gestalt. In welche taxonomische, narrative, räumliche, inszenatorische oder nutzungsbezogene Zusammenhänge wurden sie jeweils gestellt? Und inwiefern lassen sich daraus historische Sammlungspraktiken und -logiken erschließen?

Für das Vorhaben wurde eine Auswahl an Objekten zur Tiefenerschließung getroffen, um die sich aufgrund der Multidimensionalität des Beziehungsgeflechts zwangsläufig Gruppierungen von weiteren Objekten bilden. Daneben stellen schriftliche historische Quellen eine weitere wesentliche Grundlage des Vorhabens dar. Diese umfassen Sammlungsinventare des 17. und 18. Jahrhunderts, Reisebeschreibungen und Stadtführer des 18. und frühen 19. Jahrhunderts, gedruckte Sammlungsführer und -geschichten des 19. Jahrhunderts sowie Museumsführer oder auch Museumsakten.

Die Rekonstruktion der Objektgeschichten erfolgt zum einen vom heutigen Standpunkt ausgehend, indem die Provenienz der Objekte zurückverfolgt wird. Zum anderen werden, ausgehend vom heterogenen historischen Quellmaterial, Geschichte, Bewertung und Zugriffspraktiken zu den einzelnen Objekten nachgezeichnet.

Anforderungen an das Datenmodell und erste Ansätze
Wie also können unsichtbare Eigenschaften von Objekten über einen Zeitraum von mehreren Jahrhunderten zurückverfolgt und vor allem sichtbar gemacht werden? Welche Eigenschaften sind das und welche Akteure und Kontexte spielen bei ihrer Zuweisung eine Rolle? Wie können die Pluralität, Gegensätzlichkeit und Ungewissheit der Informationen erfasst werden?

Im Zuge der Entwicklung eines auf die Bedürfnisse des Projekts zugeschnittenen Datenmodells, das anschließend in die virtuelle Forschungsumgebung WissKI
implementiert werden soll, muss zunächst der aktuell vorliegende digitale Datenbestand betrachtet werden. Die fokussierten Objekte sind heute auf u.a. die drei Projektinstitutionen aufgeteilt und damit verschiedenen Fachbereichen zugeordnet und hinsichtlich fachspezifischer Aspekte erschlossen. Aus diesem Grund muss eine Grundlage für eine disziplinübergreifende, einheitliche und strukturierte Erfassung der Objekte geschaffen werden. Während bei den im naturwissenschaftlichen Kontext befindlichen Objekten beispielsweise taxonomische Klassifizierungen relevant sind, so stehen bei jenen, die heute in Kunstsammlungen beherbergt sind, ikonographische oder stilistische Kriterien im Vordergrund. Auch diese heutigen, fachspezifischen Erschließungskriterien bilden einen weiteren Baustein in der Bewertungs- und Zugriffsgeschichte der Objekte und sind deshalb in das Vorhaben mit einzubeziehen. Neben weiteren deskriptiven und strukturellen Metadaten müssen alle vorliegenden, für die Provenienz relevanten Angaben überführt werden können. WissKI bietet dafür verschiedene Schnittstellen.

Ein weiteres zentrales Konzept im Datenmodell bilden neben den Objekten die historischen Quellen, deren Entstehungs- und Funktionskontext, Informationsgehalt und Auslegung es abzubilden gilt. Dabei können bereits Art und Entstehungskontext einer Quelle in direktem Zusammenhang mit der enthaltenen Art der Information und unter Umständen auch der Art und Weise, wie diese interpretiert wird, stehen. Die jeweilige Auslegung der Information des Quelltextes muss aufgrund ihres subjektiven Charakters so modelliert werden, dass die Kriterien, die zu ihr geführt haben, möglichst transparent und nachvollziehbar dokumentiert werden können. Auch dürfen deshalb die aus dem Text extrahierten Information nicht als gegebener Fakt modelliert, sondern entsprechend des interpretativen Vorgangs hypothetisch abgebildet werden. Aus diesen Gründen sollte die Auslegung als Aktivität begriffen werden, an die eine Kombination aus Pfaden zur Verschlagwortung bzw. zur Hinterlegung von Begriffsthesauri, zur Verbindung mit Sammlungskomplexen für Standort- oder Zugehörigkeitszuweisung, zur Kommentierung für den Wissenschaftler sowie zur Transkription der betreffenden Textstelle selbst verbunden werden können.
Des Weiteren sollten die Auslegungen zeitlich verortet, mit anderen Ereignissen und auch mit Akteuren in Verbindung gebracht werden können, sofern die Aussagen nicht vom Autor der Quelle selbst, sondern von Dritten getätigt wurden. Dadurch würde gewährleistet, dass der Kontext einer Zuweisung und ihre Auslegung möglichst detailliert dokumentiert werden können, und der Wissenschaftler in den damit verbundenen Kommentarfeldern seine Auslegung begründen oder kritisch reflektieren kann. Dies gilt es jedoch zunächst zu erproben.
Durch seinen ereigniszentrierten Charakter und die Intention, einen fachübergreifenden Austausch zu ermöglichen, bietet das vom ICOM CIDOC entwickelte ISO-zertifizierte Conceptual Reference Model (CRM) ideale Voraussetzungen, um als Ontologie für das zu entwickelnde Datenmodell verwendet zu werden. Durch seine ISO-Zertifizierung ist die Langzeitinterpretierbarkeit der Daten garantiert, zudem wird das Modell regelmäßig von den Entwicklern aktualisiert. Das CRM stellt darüber hinaus die einzige Ontologie dar, die sich über die letzten Jahre als Erfassungsschema für den Bereich des kulturellen Erbes durchgesetzt hat. Um der Spezifizierung des zu beschreibenden Themengebiets innerhalb des kulturellen Gegenstands gerecht zu werden, kann die Ontologie angepasst bzw. erweitert werden (vgl. Hohmann / Fichtner 2015: 120). Indem das CRM ermöglicht, physische und abstrakte Konzepte über Ereignisse miteinander in Beziehung zu setzen, können insbesondere die geschilderten, notwendigen Zuweisungen von Merkmalen, Standorten usw. sowie ihre Veränderungen abgebildet und mit weiteren Akteuren, Zeit, Ort und Ereignissen in Beziehung gesetzt werden.

Für die Modellierung interpretativer Vorgänge bietet sich beispielsweise die Klasse E13 Attribute Assignment (Merkmalszuweisung) an, die es in der projektspezifischen Anwendungsontologie auszudifferenzieren gilt. Ihr Anwendungsbereich wird wie folgt beschrieben:

„Diese Klasse umfasst die Aktionen des Feststellens von Eigenschaften eines Gegenstandes oder von Beziehungen zwischen zwei Gegenständen oder begrifflichen Konzepten. [Sie] erlaubt die Dokumentation, wie die jeweilige Feststellung zu Stande kam, und wessen Meinung es war. Alle in solch einer Aktion zugewiesenen Merkmale oder Eigenschaften können auch so verstanden werden, als ob sie direkt am jeweiligen Gegenstand oder begrifflichen Konzept fest gemacht wurden, möglicherweise auch als eine Sammlung von widersprüchlichen Werten. [...]“. (Doerr / Lampe / Krause 2011: 56)

Ein Pfad für die Auslegung einer Quellinformation, konkret für die Zuweisung eines Bedeutungsbegriffs, könnte damit folgendermaßen modelliert werden:

E84 Information Carrier (Quelle) → P128i carries → E73 Information Objekt (Inhalt der Quelle) → P140i was attributed by → E13 Attribute Assignment (Objektattributierung) → P17i includes → E13 Attribute Assignment (Bedeutungszuweisung) → P141 assigned → E55 Type (Begriffsthesaurus) → P149 is identified by → E75 Conceptual Object Appellation (Bezeichnung des Begriffs)

An die Klasse
E13 Attribute Assignment (Objektattributierung) könnten über die Property
P17i includes weitere Zuweisungen als Teil einer Objektattributierung gekettet werden, beispielsweise jene, die den Standort (Standortzuweisung) betreffen oder auf eine Sammlungszugehörigkeit (Sammlungszuweisung) hinweisen. An diese wiederum könnten Ereignisse, Akteure, Datum oder Kommentare gekoppelt werden. Auf Ebene des
E13 Attribute Assignment (Objektattributierung) könnte das betreffende Objekt
(E84 Information Carrier) gebunden werden, dem laut Interpretation der Quelle
(E84 Information Carrier) Eigenschaften zugewiesen werden:

E84 Information Carrier (Quelle) → P128i carries → E73 Information Objekt (Inhalt der Quelle) → P140i was attributed by → E13 Attribute Assignment (Objektattributierung) → P140 assigned attribute to → E84 Information Carrier (Objekt) → P48 has preferred Identifier → E42 Identifier (Inventarnummer)

Die Merkmalszuweisung erlaubt aufgrund ihres Anwendungsbereichs die Darstellung interpretativer Vorgänge, an die, aufgrund ihres Aktivitätscharakters, Kontexte, Umstände und Begriffe optimal angeknüpft werden, und die durchaus plural oder mehrdeutig sein können. Zusätzlich kann die Merkmalszuweisung mit Kommentaren verbunden werden, um eine zusätzliche, ausführlichere Erläuterung des Vorgangs zu dokumentieren.

Fazit
Es muss bereits zu Beginn bewusst sein, dass allein durch die Gestaltung des Datenmodells formuliert wird, welche Informationen am Ende zu sehen sein sollen. Denn bereits die Modellierung stellt einen interpretativen Akt dar, der stets unter dem Einfluss des Wissens eines Subjekts oder einer Gruppe steht. Aus diesem Grund muss in einem stetigen Prozess immer wieder erprobt und kritisch hinterfragt werden, inwiefern besondere Aspekte zu stark akzentuiert werden oder zu wenig zur Geltung kommen. Unter der Annahme einer ständigen Überarbeitung ist es deshalb von besonderem Belang, bei der Modellierung von Daten Sackgassen zu vermeiden und stets mögliche Punkte zum Andocken bereitzustellen.

Das Projekt wird seit 2018 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert. Informationen zum Projekt auf der Projektseite der Staatlichen Museen zu Berlin, URL:
https://www.smb.museum/forschung/forschungsprojekte/fenster-natur-kunst.html [letzter Zugriff: 02.01.2020].

Website WissKI, URL:
http://wiss-ki.eu [letzter Zugriff: 02.01.2020].

Eine gängige Möglichkeit des Datenimports besteht darin, Daten aus der Quelldatenbank als CSV-Datei zu exportieren und anschließend in das stets zusätzlich zum Triplestore mit einem WissKI-System gekoppelte, relationale Datenbankmanagementsystem MariaDB (Website URL:
https://mariadb.org/ [letzter Zugriff: 02.01.2020]) zu importieren. Von dort aus werden die Daten sodann über ein Import-Skript, das die Tabellendaten auf die semantischen Pfade des im System implementierten Datenmodells mappt, mit dem WissKI-ODBC-Import-Modul in die Forschungsumgebung importiert und im Zuge dessen als Tripledaten im Triplestore abgespeichert.

Website des CIDOC CRM, URL:
http://cidoc-crm.org/ [letzter Zugriff: 02.01.2020].

Die einzige Implementierung in OWL stellt das sog. Erlangen CRM dar, das für die konkrete Modellierung verwendet wird. Website des Erlangen CRM, URL:
http://erlangen-crm.org/ [letzter Zugriff: 02.01.2020].

Die in Klammern gesetzten Begriffe sollen die Subkonzepte in der projektspezifischen Anwendungsontologie darstellen.

Bibliographie

Büttner, Nils (2014):
Einführung in die frühneuzeitliche Ikonographie. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

Doerr, Martin / Lampe, Karl-Heinz / Krause, Siegfried (2011):
Definition des CIDOC Conceptual Reference Model Version 5.0.1.; autor. durch die CIDOC CRM Special Interest Group (SIG) (= Beiträge zur Museologie 1). Berlin: ICOM Deutschland.

Dolezel, Eva (2019):
Der Traum vom Museum. Die Kunstkammer im Berliner Schloss um 1800 – eine museumsgeschichtliche Verortung. Berlin: Gebr. Mann.

Hohmann, Georg / Fichtner, Mark (2015): „Chancen und Herausforderungen in der praktischen Anwendung von Ontologien für das Kulturerbe" in: Robertson – von Trotta, Caroline Y. / Schneider, Ralf Y. (eds.):
Digitales Kulturerbe.
Bewahrung und Zugänglichkeit in der wissenschaftlichen Praxis (= Kulturelle Überlieferung – digital 2). Karlsruhe: KIT Scientific Publishing 115-128.

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Conference Info

Incomplete

DHd - 2020
"Digital Humanities zwischen Modellierung und Interpretation"

Hosted at Universität Paderborn

Paderborn, Germany

March 2, 2020 - March 6, 2020

130 works by 319 authors indexed

Conference website: https://zenodo.org/record/3666690

Contributors: Patrick Helling, Harald Lordick, R. Borges, & Scott Weingart.

Series: DHd (7)

Organizers: DHd