Modellierung von Annahmen als Basis für Rekonstruktionen von Architektur

poster / demo / art installation
Authorship
  1. 1. Laura Albers

    LMU München

  2. 2. Peggy Große

    Fachhochschule Mainz (Mainz University of Applied Sciences)

Work text
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Die Rekonstruktion von historischen Bauten und ihren Ausstattungen stellen einen wichtigen Beitrag für kunst- und architekturhistorische, soziokulturelle und denkmalpflegerische Fragestellungen dar. Die anschauliche Form einer Rekonstruktion ist das analoge oder digitale dreidimensionale Modell. Damit gewinnt das unter Umständen nicht mehr vorhandene oder veränderte Bauwerk seine äußere Form ‚zurück‘. Gleichermaßen kann unter Rekonstruktion eine Ansammlung von Wissen zu einem Objekt gemeint sein, deren Teile zueinander ins Verhältnis gesetzt werden und eine netzwerkartig aufgebaute Kontextualisierung ermöglichen. Diese Teile können textuell oder bildlich vorliegen, in Form von Quellenmaterial oder von wissenschaftlichen Analysen.
Die Grundlage für jede Rekonstruktion ist entweder vorliegendes, sich direkt auf das Bauwerk beziehende Quellenmaterial (Fotografien oder Zeichnungen, mündliche oder schriftliche Überlieferungen) oder wissenschaftliche Annahmen und Zuweisungen, Rückschlüsse und Schlussfolgerungen. Letztere können sich wiederum auf Quellenmaterial oder wissenschaftliche Analysen berufen, welche sich nicht direkt auf das Bauwerk beziehen.
In vielen Fällen ist die Quellenlage für Rekonstruktionen dürftig, weshalb es sich oftmals um hypothetische Ergebnisse handelt. Dadurch wird die Argumentation, wie es zu einem bestimmten Ergebnis kommt, umso wichtiger. Diese zu dokumentieren stellt die Basis für die weitere wissenschaftliche Forschung und Rezeption anhand des entsprechenden Modells dar.
Es stellt sich die Frage, wie die Belegbarkeit und Nachvollziehbarkeit digital richtig abgebildet werden können, um die Informationen zur Rekonstruktion im Sinne des Semantic Web angemessen zu beschreiben. Anhand von zwei Fallbeispielen werden Lösungen vorgestellt, wie man die Herkunft von Informationen bzw. ihren wissenschaftlichen Bearbeitungskontext dokumentieren kann. Beide Projekte arbeiten mit der virtuellen Forschungsumgebung WissKI (http://wiss-ki.eu/), in der die Erfassung und semantische Erschließung der Daten auf Grundlage von CIDOC CRM (als Standard anerkannte Ontologie für das kulturelle Erbe, ISO 21127, http://www.cidoc-crm.org/) erfolgt.

Architekturgebundene Ausstattung als Medium von Herrschaftsanspruch am Beispiel zweier Deutschordensresidenzen
Das erste Projekt befasst sich im Rahmen einer Dissertation an der Ludwig-Maximilian-Universität München (Betreuer Prof. Dr. Stephan Hoppe) mit architekturgebundener Ausstattung zweier Deutschordensresidenzen als politische Sprache und Medium von Herrschaftsanspruch: die Residenz Ellingen und das Schloss Mergentheim. Unter architekturgebundener Ausstattung werden Wand- und Deckenmalerei, Stuckarbeit und Bauplastik, Fußböden und alle weiteren mit der Architektur fest verbundenen Ausstattungsgegenstände begriffen, denen im Kontext des Herrschaftsausdrucks ein Sinngehalt beigemessen werden kann.
Der Deutsche Orden ist als mittelalterlicher Ritterorden entstanden und war in der Frühen Neuzeit ein wichtiger politischer, zwischen religiösen Zielen und weltlichen Interessen situierter Akteur des Heiligen Römischen Reiches. Der Landkomtur der größten Ordensprovinz Franken hatte seinen Sitz im mittelfränkischen Ellingen. (Konter 2011: 16) Die Ordensleitung in Person des Hoch- und Deutschmeisters residierte seit Mitte des 16. Jahrhunderts im repräsentativen Ordensschloss in Mergentheim. (Trentin-Meyer 2004: 42) Dieser Ort befindet sich ebenfalls in der Fränkischen Ordensprovinz, stellt jedoch ein eigenständiges, dem Hoch- und Deutschmeister unterstelltes Kammergut, das „Meistertum Mergentheim“, dar. (Konter 2011: 16) Der ständige Interessenkonflikt über die territoriale Herrschaft, die stetig unabhängiger werdende Ordensprovinz Franken und die traditionsgemäß verpflichtende Wahrung der Hierarchie innerhalb des Ordens erforderten ein ständiges Neupositionieren und Reagieren auf den jeweils anderen. Gleichzeitig musste sich der Deutsche Orden als politischer Akteur im Reich bewegen und sich trotz innerer Konflikte geschlossen behaupten. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts erfahren die süddeutschen Territorien des Deutschen Ordens einen relativen Aufschwung, der sich sowohl in Ellingen als auch in Mergentheim in Bautätigkeiten im Sinne von Neubauten und Erweiterungen äußert. Ende des 18. Jahrhunderts löst sich der Landkomtursitz in Ellingen auf und wird Mergentheim unterstellt. Kurz darauf folgt die Auflösung des gesamten Ordens. (Konter 2011: 15) Das 18. Jahrhundert stellt somit eine von Aufschwung und Niedergang geprägte Zeitspanne des Deutschen Ordens dar. Die zentrale Forschungsfrage thematisiert, inwiefern sich diese internen und externen Dynamiken über die künstlerischen Ausstattungsmerkmale in den Residenzen ausdrücken.
Für die Beantwortung dieser Frage ist die Rekonstruktion unterschiedlicher Zeitpunkte bzw. Zustände notwendig, die nur durch ihren Bezug entweder auf Quellen oder auf fundierte Annahmen nachvollzogen werden kann. Erst durch die Differenzierung der ursprünglichen Ausstattung und späteren Veränderungen (meistens durch unterschiedliche Auftraggeber) können die Ausstattungsmerkmale kontextualisiert werden. Der Ausgangspunkt sind die erhaltenen materiellen Zeugnisse (Architekturobjekte, Ausstattungen und Quellen). Doch basiert die Erschließung von Objekten und ihren vergangenen Zuständen zum Großteil auf wissenschaftlichen Annahmen. Damit diese nachvollziehbar sind, muss neben der inhaltlichen Aussage auch dokumentiert werden, von wem sie wann in welchem Kontext getroffen wurden. Für das Datenmodell ist demnach die Ausrichtung auf die wissenschaftliche Arbeit als Zuschreibung zentral.
Auf der Ebene der semantischen Datenmodellierung mit CIDOC CRM wird nahegelegt, den einzelnen Gegenstand möglichst genau zu beschreiben, um die Spezifizität des Sachverhalts treffend anzusprechen und diesen von anderen besser abzugrenzen. Je tiefer die Klasse demnach in der Hierarchie Ontologie steht, desto zahlreicher und spezifischer werden die zur Verfügung stehenden Eigenschaften. Für den Vorgang der wissenschaftlichen Tätigkeit bietet sich die Abbildung durch ein Zuschreibungsereignis (E13 Attribute Assignment) an. Eine solche Zuschreibung kann in Bezug auf jeden beliebigen Themengegenstand ausgeführt werden, weshalb die Klasse E13 Attribute Assignment über die Property P141 assigned mit jeder Klasse in CIDOC CRM verknüpft werden kann.
Zuschreibungen können Aussagen über das Bauwerk (oder dessen Ausstattung) treffen und sich dabei auf bestimmte Quellen und andere Zuschreibungen stützen. Quellen werden als Instanzen der Klasse E73 Information Object, als immaterielles Objekt, abgebildet. Diese Klasse erlaubt eine weitere Auslegung dessen, was als Quelle gelten kann, und ermöglicht so das Abbilden von vielfältigem Quellenmaterial.
Die Architektur wird als materieller Gegenstand begriffen, den es in seiner Erscheinung zu erfassen gilt. Die hierfür geeignete Klasse ist E22 Human-Made Object, da sie jene physischen Objekte („physical objects“) umschreibt, die absichtlich von Menschenhand geschaffen wurden. Ihre Oberklasse E24 Physical Human-Made Thing beschreibt im abstrakteren Sinne „all persistent physical items“, die durch Menschenhand geschaffen wurden. Architektur und ihre Teile werden durch die Klasse E22 Human-Made Object treffender beschrieben.
Für die Modellierung der Ausstattung wurde die Klasse E25 Human-Made Feature gewählt, da diese als Unterklasse von E26 Physical Feature die Eigenschaft hat, wesentlich mit physischen Objekten in Verbindung zu stehen („physically attached in an integral way to particular physical objects“). Hierdurch wird die Auslegung erlaubt, dass ein solches Feature nicht von seinem Trägerobjekt gelöst werden kann, bzw. ein Teil des übergeordneten Objekts (Architektur als E22 Human-made Object) dieses gänzlich ’trägt‘. Der Fall eines Freskos veranschaulicht diese Verbindung besonders gut. Dass jedoch die Klasse E25 Human-Made Feature gewählt wurde, hängt mit der beabsichtigten Schaffung durch Menschenhand zusammen, die kein Kriterium eines E26 Physical Feature ist, jedoch in unserem Zusammenhang eine elementare, zu untersuchende Eigenschaft darstellt.
Diese variablen Verknüpfungen zwischen den zu untersuchenden Objekten, den Ausstattungen, den Quellen und den jeweiligen Zuschreibungen bilden ein komplexes, ineinandergreifendes Wissensnetzwerk, das den interpretierenden Ansätzen eine zentrale Position einräumt.

Umgang mit Quellen in 3D-Rekonstruktionen
Digitale 3D-Rekonstruktionen nicht mehr vorhandener Bauten bzw. früherer Zustände von historischen Gebäuden werden seit langer Zeit in unterschiedlichen Kontexten, z.B. in Ausstellungen oder zum Zweck der wissenschaftlichen Forschung eingesetzt. (Messemer 2016) Deren Rekonstruktionen beruhen auf den hypothetischen Annahmen, die vom Bearbeiter mithilfe von unterschiedlichen Quellen abgeleitet werden müssen: Fotografien, Entwurfs- und Bauzeichnungen, zeitgenössischen Beschreibungen uvm. (Bruseker/Guillem/Carboni 2015: 33) Die Fokussierung auf das 3D-Modell als Endprodukt führt häufig zur nicht oder nur unzureichenden Dokumentation der Quellen. Das 3D-Modell ist damit schnell der Kritik fehlender Wissenschaftlichkeit ausgesetzt. (Kuroczyński 2018: 162)
Die Erfassung der dem 3D-Modell zugrundeliegenden Quellen sollte möglichst nachvollziehbar und transparent sein. Eine Möglichkeit wäre die Quellen direkt mit dem 3D-Modell zu verbinden. Der vorliegende Vorschlag stellt jedoch nicht das Modell, sondern den Prozess der Rekonstruktion in den Mittelpunkt. Diese Aktivität wird als Instanz der Klasse E7 Activity aufgefasst. Durch die Beschreibung als Aktivität wird auch der kreativ-interpretative Anteil des Bearbeiters deutlich. Das 3D-Modell (Instanz der Klasse E73 Information Object) wird in der jeweiligen Aktivität implizit, als ihr Produkt angesprochen. Dadurch wird die Quelle nicht direkt mit dem 3D-Modell verknüpft, sondern der Realität entsprechend in Beziehung zu der Aktivität gesetzt, die zu diesem Modell führt. Informationen zu den jeweiligen Quellen (Instanzen der Klasse E31 Document) werden in einem eigenen Formular erfasst. Dieses Datenmodell bietet die Möglichkeit nachvollziehbar zu beschreiben, wann das 3D-Modell quellenbasiert ist und wann es ein nur auf Hypothesen basierendes, fiktives Produkt ist.

Fazit
Auf Unschärfen und Unsicherheiten von Informationen und Aussagen reagieren beide Projekte, indem sie neben den verwendeten Quellen auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung bzw. die interpretative Tätigkeit des Modelleurs dokumentieren. Dieser Aspekt, der in der traditionellen geisteswissenschaftlichen, linearen Textarbeit oftmals ‘nur’ in den Fußnoten Platz findet, rückt als elementarer Bestandteil wissenschaftlicher Arbeit weiter ins Zentrum und erfährt durch die netzwerkartige Datenstruktur eine gleichrangige Behandlung im Kontext von (visuellen) Rekonstruktionen von Wissensbeständen.
Mit der geschaffenen Struktur könnte man nach Diskussion geeigneter Kriterien für die qualitative und quantitative Auswertung Aussagen zur Plausibilität von Quellen, Zuschreibungen und quellenbasierten 3D-Modellen treffen, die automatisiert abgefragt werden können.

Bibliographie

Bruseker, G. / Guillem, A. / Carboni, N. (2015): „Semantically Documenting Virtual Reconstruction: Building a Path to Knowledge Provenance“, in:
ISPRS Ann. Photogramm. Remote Sens. Spatial Inf. Sci II-5/W3: 33-40.

CIDOC CRM Version 6.2.7, siehe: http://www.cidoc-crm.org/Version/version-6.2.7 (zuletzt aufgerufen am 13.12.2019)

Konter, Erich (2011): Deutsche Residenzen. Zur Sozialgeschichte der Repräsentation herrschaftlicher Ansprüche. Berlin: Edition Sigma.

Kuroczyński, Piotr (2018): „Neuer Forschungsraum für die Kunstgeschichte. Virtuelle Forschungsumgebungen für 3D-Rekonstruktionen“, in
: Computing Art Reader. Einführung in die digitale Kunstgeschichte (=Computing in art and architecture 1). Heidelberg, 160-180.

Messemer, Heike (2016): „The beginnings of digital visualization of historical architecture in the academic field”, in:
Hoppe, Stephan / Breitling, Stefan (eds.): Virtual Palaces. Lost palaces and their afterlife. Virtual reconstruction between science and media. München, 21-54.

Trentin-Meyer, Maike (ed.) (2004): Deutscher Orden 1190-2000. Ein Führer durch das Deutschordensmuseum in Bad Mergentheim. Baunach: Spurbuchverlag.

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Conference Info

Incomplete

DHd - 2020
"Digital Humanities zwischen Modellierung und Interpretation"

Hosted at Universität Paderborn

Paderborn, Germany

March 2, 2020 - March 6, 2020

130 works by 319 authors indexed

Conference website: https://zenodo.org/record/3666690

Contributors: Patrick Helling, Harald Lordick, R. Borges, & Scott Weingart.

Series: DHd (7)

Organizers: DHd